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Goethes Mutter
Im Jahr Eins nach dem Goethejahr 1999 hatte es den Anschein, daß sich die Veröffentlichungen zu Ehren des Dichters, die großen und kleinen, die überflüssigen und grundlegenden, erschöpft hätten. Aber nun beginnen sie wieder – und zwar gleich mit zwei bemerkenswerten. Beginnen wir mit derjenigen, von der auch ein breiteres Publikum etwas hat: Dagmar von Gersdorf (bisher als Verfasserin einer ebenso genauen wie warmherzig-aufschlußreichen Kaschnitz-Biografie hervorgetreten) hat jetzt das Leben von Goethes Mutter jenseits aller Betulichkeit beschrieben, mit der man diese Frau früher meinte würdigen zu müssen.
Herrlich vorurteilsfrei, fand „Mutter Aja“ leicht Kontakt zu jedermann und hatte »die Gnade von Gott, daß noch keine Menschenseele mißvergnügt von mir weggegangen ist – weß Standes, alters, und Geschlecht sie auch geweßen ist«. Später war sie stolz darauf, daß man sie ihres »Hätschelhanses« wegen besuchte; »bei mich kommen sie Alle ins Haus«. Als es ihr im Alter in dem großen, leergewordenen Haus zu ungemütlich wird, verkauft sie es 1795 ohne Bedenken samt »allen kling klang« und zieht in eine hübsche kleine Mietwohnung am Roßmarkt. Sie versteht zu leben, und am Ende hat sie es auch beispielhaft verstanden zu sterben. Nichtsahnende Gastgeber schickten ein Dienstmädchen, um sie einzuladen. Frau Goethes schlichte Antwort: »Sagen Sie nur, die Rätin kann nicht kommen, sie muß alleweil sterben.« Nachdem Frau Rat noch für den Leichenschmaus gesorgt hat, segnet sie das Zeitliche und geht am 13. September 1808 getrost ins nächste Leben hinüber.
Kann man über einen so braven, lebenstapferen, vermutlich aber doch recht durchschnittlichen Menschen 460 aufschlußreiche, ja unterhaltsame Seiten schreiben? O ja, man kann. Denn erstes war Elisabeth Goethe alles andere als ein durchschnittlicher Charakter, und zweitens hat Dagmar von Gersdorff so viel neues Material zusammengetragen, daß viele bislang verborgene Seiten eine ganz neue Beleuchtung erfuhren. Die Geschichte mit dem Schauspieler Unzelmann zum Beispiel, eine Fast-Affaire, welche die Witwe trotz des schmerzlichen Scheiterns zur „glücklichsten Zeit“ ihres Lebens rechnet. Die Biografin hat nicht zuletzt viel Stoff durch die Auswertung so unscheinbarer Zeugnisse wie Ausgaben- und Wirtschaftsbüchern gewonnen. (Ein Verfahren, mit dem schon Roberto Zapperi dem inkognitoreisenden Goethe in Rom auf die Schliche kam.)
Möglich, daß Sigrid Damm die größere Schriftstellerin ist, doch strapaziert sie mit ihrer Manier den Leser auch weidlich („Christiane und Goethe“) oder überfüllt eine Biografie voller Lücken mit zahllosen konjunktivischen Überlegungen („Cornelia Goethe“). Die Gersdorff ist bescheidener. Ihr Stil dient der Sache und drängt sich nirgendwo in den Vordergrund. Man folgt ihrem Lebensbild gerne und hat am Ende über die Mutter viel und über den Sohn nicht zu wenig Neues erfahren.

Dagmar von Gersdorff: Goethes Mutter. Eine Biographie. Frankfurt am Main: Insel 2001. 460 S. Geb. 49.80 DM.