Klaus Stadtmüller

 "Man verheirate z.B. die Wachstuchdecke mit der Heimstättenaktiengesellschaft"

Kurt Schwitters

Geboren am 20. Juni 1887 in Hannover, 
gestorben am 8. Januar 1948 in Kendal (Westmoreland)


In Hannover seien es gleich zwei, die sich in der Nachfolge von Schwitters bewegten, nämlich Timm Ulrichs und Klaus Stadtmüller. So etwa schrieb vor Jahren ein Kritiker in einem Überblick über die Literatur im Flächenland Niedersachsen. Dass ich in einem Atemzug mit dem von mir sehr geschätzten Konzeptkünstler Timm Ulrichs genannt wurde, schmeichelte mir.

 Von dem anderen Herrn, in dessen Fussstapfen wir beide vermeintlich wandelten, wusste ich nichts. Nicht, dass er in meinem Wohnort Hannover gebürtig war, noch dass er, wie ich nach ihm auch, ein paar Jahre in Norwegen zugebracht hatte. Was also blieb mir anderes übrig, als mich mit diesem Herrn zu beschäftigen und herauszufinden, wieso ein bildender Künstler und ein Schriftsteller mit ihrer Arbeit an ein und denselben Menschen gemahnen konnten? Die Antwort war einfach; denn diese für mich seinerzeit noch sträflich unbekannte Grösse erwies sich als beides zugleich, war zuerst Maler und dann ebenso Autor und darüberhinaus sogar noch in anderen Sparten zu Hause, nämlich als Verleger, Werbegestalter, Typograph und Vortragskünstler. Nebenbei hat er sich gar mit Bühnentheorie, Fotografie und ein wenig mit Komposition befasst. Aber selbst dem unermüdlichen Vermarkter in eigener Sache gelang es nicht, mit seinen Arbeiten zu Reichtum und Ruhm zu kommen. Letzterer kam – vor allem für den bildenden Künstler – nach seinem Tod, dann freilich umso heftiger und weltumspannender, bis schliesslich sogar die Leute in Hannover seinen Namen zu buchstabieren lernten, eine Strassenkreuzung sowie einen Kunstpreis nach ihm benannten und ihm gleich zwei Archive und ein Hochschulzentrum widmeten.

Seit jener Kritiker mich mit seiner Bemerkung neugierig gemacht hatte, habe ich im Laufe der Jahre allerlei über diesen Herrn Schwitters erfahren, viele Bilder und künstlerische Arbeiten gesehen und wohl das meiste Verfügbare von dem gelesen, was er aufgeschrieben hat. Ein bedeutender Teil seiner Prosa, Lyrik, Texte für und zum Theater sowie seiner programmatischen Schriften und Aufrufe ist in fünf stattlichen Bänden gesammelt. Hinzu kommen Briefausgaben und eine schier unübersehbare Fülle von Katalogen und anderen Veröffentlichungen zu seinem Leben und Werk. Aus all diesen schaut mich ein schwerer Mann an, der es mit der Leichtigkeit hatte, ein ganz normaler Spiessbürger, der seine Sentimentalität mit skurrilen, grotesken und märchenhaften Einfällen zu konterkarieren wusste. Einer, der einen besonders wachen Sinn hatte für das Aufeinanderprallen von alltäglichen Banalitäten und hehrem Pathos, das ihm selbst nicht fremd, aber nach den Erfahrungen des ersten europäischen Weltkriegs verdächtig war. Einer schliesslich, der diese Zwiespältigkeiten ohne Scheu und mit sicherem Gespür für Witz und Effekte in Kunst, in Literatur verwandeln konnte und zwar in einer Weise, die nicht belehrend daherkommt, sondern spielerisch und so das Kunststück wie den Betrachter, Leser, Hörer zu dem je eigenen Recht kommen lässt.

Auch nach vielen Jahren haben diese Figur und ihre Hervorbringungen nichts, rein gar nichts an Faszination für mich eingebüsst. Zum x-ten Mal kann ich mich ergötzen an Zeilen wie diesen: Meine süsse Puppe;/ Mir ist alles schnuppe,/ Wenn ich meine Schnauze/ Auf die Deine – bauze. Oder ich kann auch bei wiederholter Lektüre trauerlächeln, wenn Schwitters wenige Tage vor seinem Ende durch Herzversagen an seinen Sohn schreibt, das Herzasthma habe sich nun zu einem Merzasthma entwickelt.

Mit „Merz“, das muss erklärt werden, hatte es folgende Bewandtnis: Der Begriff taucht erstmals auf in einer Assemblage von 1919, in die Schwitters aus einer Bankreklame diesen Wortfetzen eingeklebt hat und die drum den Titel „Merzbild“ erhielt. (Eben dieses Bild wurde übrigens, schräg und über Kopf gehängt, 1937 in der Naziausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt.) Ebenfalls 1919 druckte Herwarth Walden, der erste abstrakte Arbeiten des jungen Mannes zwei Jahre zuvor in seiner Berliner Galerie „Der Sturm“ präsentiert hatte, in der gleichnamigen Zeitschrift dessen Artikel „MERZmalerei“ und literarische Arbeiten. Nachdem der Hannoveraner auch noch die „Merzbühne“ propagiert hatte, erschien aus seiner Feder ein autobiographischer Text, der nur noch mit „Merz“ überschrieben ist. Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfasst zur künstlerischen Einheit. Zuerst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, dass die Anordnung rhytmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. Ich habe Bilder so genagelt, dass neben der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht. Dieses geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen. Ab 1923 gab er dann eine eigene Publikationsreihe „Merz“ heraus, numerierte seine Arbeiten je nach Gattung als Merz 1, Merz 2 usw. und bezeichnete sich selbst immer wieder als Merz.

Merz erscheint nicht als ein spartenübergreifender neuer „-ismus“, wie ihn die gleichzeitigen Dadaisten, zu denen Schwitters Kontakte knüpfte und zu deren Kongress er 1922 nach Weimar reiste, für sich in Anspruch nahmen. Gemeinsam war ihm wie ihnen die Vorstellung, dass nach dem Kriegserlebnis mit den überkommenen Begrifflichkeiten kein Staat mehr zu machen sei, dass sie allenfalls für Verballhornungen tauglich seien. Aber anders als etwa für Hans Arp, Tristan Tzara und Raoul Hausmann waren einem spurtreuen Dadaisten Huelsenbeck´scher Prägung die Arbeiten eines Kurt Schwitters aus der Provinz nicht vorbehaltlos genug und es fehlte ihnen an politischem Biss. War nicht Schwitters´ Gedicht „An Anna Blume“, das ihm ab 1919 eine gelinde Berühmtheit und – nachdem es auch an Litfassäulen prangte – eine erregte öffentliche Reaktion eingetragen hatte, letztlich doch ein, wenn auch verkapptes Liebespoem? Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir! / Du, Deiner, Dich, Dir, ich Dir, Du mir, - wir? Und waren womöglich einige der queren Attribute dieser rotgrünen Dame mit dem Vogel (Hut auf den Füssen, gelbes Haar, zersägte Kleider) nur Camouflage? Die Dadaisten blieben skeptisch bis ablehnend auf Abstand. Schwitters, dem tatsächlich politische Agitation fremd war und der nebenher gar in einem Teil seiner Zeichnungen, Gemälde sowie seiner kurzen Prosa, u.a. (Anek-)Doten, Märchen, Schlager, zugleich auch einen bildhaften Realismus pflegte, machte aus der Not eine Tugend (Merz und Dada sind sich durch Gegensätzlichkeit verwandt.), indem er mit „Merz“ seine höchstpersönliche Kunstrichtung kreierte, was im übrigen auch unter PR-Gesichtspunkten eher von Vorteil war. Schwitters hatte es hellsichtig vorhergesagt: Ewig währt am längsten.

Aber der Reihe nach: Kurt Eduard Karl Julius Schwitters erblickte am 20.Juni 1887 in Hannover als Sohn ehrbarer Eltern, die ein Damenkonfektionsgeschäft betrieben, das Licht der Welt. Ich wurde als ganz kleines Kind geboren. Meine Mutter schenkte mich meinem Vater, hat sich der Spassvogel später mockiert über so viel Bürgerlichkeit, an der er, der „Revolutionär im Bratenrock“, freilich ein Leben lang festhielt. Nach dem Abitur studierte der Kränkelnde erst zwei Semester an der Kunstgewerbeschule Hannover und dann von 1909 bis 1914 an der Kunstakademie Dresden. Auch als ausgebildeter Künstler war der junge Mann zunächst noch ganz manierlich, malte höchst herkömmliche Ölbilder, ehelichte eine Lehrerin aus betuchter Familie und wurde alsbald Vater eines Sohnes. Da war er schon eingezogen ins väterliche Haus in der Waldhausenstrasse in einem der besseren Viertel der Residenzstadt, wo in den nächsten fünfzig Jahren sein Lebensmittelpunkt sein sollte. Allerdings wurde dies auch der Ort seines ersten „Merzbaus“, eines höchst eigenwilligen „work in progress“, an dem er in den zwanziger Jahren zu arbeiten begann. Ausgehend von einer Plastik, die er Kathedrale des erotischen Elends nannte, entstand da im Laufe der Jahre ein ausuferndes System von Grotten, die häufig anhand von Fundstücken, Reliquien und anderen Freundesgaben an eine Person, einen Ort oder ein Ereignis gemahnten und später unter konstruktiven, weiss bemalten Bauelementen und Gips verschwanden. Nach und nach wucherte das beispiellose Kunstwerk über mehrere Stockwerke des Familienheims, liess jedoch Wohnräume wie z.B. ein Biedermeierzimmer frei – ein weiteres Beispiel für die von Schwitters jovial überbrückte Zweigleisigkeit, die ihn zeitlebens begleitete. Es ist dieses Janusköpfige, das seinen übel wollenden Kritikern das Geschäft erleichterte, indessen ihm selbst in den Zeiten des Exils einen Lebensunterhalt, etwa als Porträt- und Landschaftsmaler, ermöglichte. Zugleich erlaubte ihm diese besondere Disposition, die Wirkung seiner Texte und Auftritte vor einem unvorbereiteten Publikum sorgsam zu planen, barg aber schon immer auch die Gefahr in sich, dass seine kalkulierten Versatzstücke und deren Brüche zur schenkelschlagenden Unterhaltung verkommen könnten, wenn isoliert und platterdings von Anderen verwendet. Ich habe Banalitäten vermerzt, d.h. ein Kunstwerk aus Gegenüberstellung und Wertung an sich banaler Sätze gemacht. Das genau hat Schwitters vielfach vorexerziert mit seiner Collage-Technik, die vorgefundene Stereotype kunstvoll und überraschend zusammenfügt bzw. gegeneinander schneidet – in seinen meisterlichen Klebebildern aus Fundstücken, die in erster Linie seinen Ruhm begründet haben, ebenso wie in seinen bahnbrechenden Dichtungen und zwar von den ersten expressionistischen Anfängen an bis in seine späten Jahre. Die Kohlennot ist gross / Spart Gas- und Fahrkartenpreise!(Übergangsverkehr) / Fundsachen werden ersucht, die Bekanntmachung an der Leine zu führen (An das Proletariat Berlins, 1922).
The world is full of goods trains/The passengers are cows / And milk and butter (Perhaps Strange, 1942).

Seine Vortragskunst kam Schwitters vornehmlich bei sogenannten „Dada-Feldzügen“ zustatten, die ihn zu Tourneen u.a. nach Prag und Holland führten. Seine Reisegenossen waren dabei Theo und Nelly van Doesburg sowie Raoul Hausmann, dessen Buchstabengedicht „fmbsw“ er zu der 1932 im letzten Merz-Heft veröffentlichten „Sonate in Urlauten“ ausbaute, einer nach musikalischen Gesetzen komponierten langen Lautdichtung in mehreren Sätzen, die ausschliesslich unverbundene Buchstabenfolgen verwendet. mpiff tillf too tillllll, Jü kaa!…Fümms bö wö tääzää Uu, pögiff quii Ee!…Lanke trr gll / pe pe pe pe pe / Ooka ooka ooka ooka Das Scherzo hatte er bereits 1925 auf Grammophonplatte gesprochen bzw. gesungen. Die Ursonate ist Höhepunkt einer stattlichen Reihe von phonetischen Gedichten, die über gesetzte Buchstabenbilder, Alphabetpoeme und i-Gedichte bis hin zu freien Lautgedichten reichen, zu denen sich etwa das „Hustenscherzo“ oder „Die Wucht des Niesens“ wie Vorstufen ausnehmen. Die abstrakte Dichtung löste, und das ist ein grosses Verdienst, das Wort von seinen Associationen und wertete Wort gegen Wort, speziell Begriff gegen Begriff, unter Berücksichtigung des Klanges. Das ist konsequenter als Wertung poetischer Gefühle, aber noch nicht konsequent genug [...] Die konsequente Dichtung ist aus Buchstaben gebaut.

Das war kühn und ist es noch heute, wenn man die kleine Schar der gegenwärtigen Lautpoeten betrachtet, deren sich viele unverändert gern auf Schwitters berufen. Aber hätte sich der Hannoveraner konsequent und ausschliesslich dieser Maxime verschrieben, wäre das Vergnügen – auch sein eigenes - an seiner prallen literarischen Produktion vermutlich ungleich geringer. Seine häufig fragmentarischen Bühnenstücke, wie etwa „Der Zusammenstoss“, seine langen selbständigen Prosaarbeiten vom „Schacco Jacco“ über „Auguste Bolte“ zu „Franz Müllers Drahtfrühling“, seine kürzeren Grotesken, die Schlagertexte und noch die Kinderbücher („Der Hahnepeter“, „Die Märchen vom Paradies“, „Die Scheuche“ – zusammen mit Käthe Steinitz) sind tatsächlich aus Worten gebaut und handeln von Personen, Dingen und Ereignissen, die – ob real oder vorgestellt – an verblüffender Skurrilität, Witz und Frische so gut wie nichts eingebüsst haben. (Von eher sentimentalischen Ausrutschern, die ihm vor allem in den letzten Lebensjahren gelegentlich passierten, schweigen wir ganz bewußt.)

Deren Urheber war eben alles andere als ein verbissener Prinzipienreiter. Vielmehr stand er immer auch mit dem einen Bein im Diesseitigen. Unermüdlich knüpfte er Verbindungen zu wichtigen Zeitgenossen (darunter El Lissitzky, Phillippe Souppault, Naum Gabo, Walter Mehring, Walter Gropius, Maholy Nagy, Man Ray, Lajos d´Ebneth, Otto Nebel), hielt Kontakt zu Künstlergruppen (z.B. „Bauhaus“, „De Stijl“, „cercle et carré“ bzw. “abstraction – création”) oder gründete gar selber welche wie „die abstrakten hannover“ oder den „ring neue werbegestalter“, ergatterte Werbeaufträge und - das vor allem – sorgte dafür, dass seine bildnerischen Arbeiten ausgestellt wurden und er Auftrittsmöglichkeiten erhielt. Gemessen an seinen Kontakten und seiner zunehmenden Bekanntheit hätte das, zu Lebzeiten wohlgemerkt, eine beachtliche Karriere werden können, - wenn nicht Adolf Hitler und die Nationalsozialisten dazwischen gekommen wären.

Kurt Schwitters war kein politischer Kämpfer, aber den Nazis ein Dorn im Auge als Künstler, der mit „Müll“ Bilder machte, was den braunen Biedermännern als „entartet“ und „vollendeter Wahnsinn“ vorkam. In hohem Masse „unvölkisch“ erschienen ihnen überdies seine Schreibereien und Auftritte. Er geriet um so mehr unter Druck, als ein guter Freund aktiver Sozialdemokrat war und Schwitters´ Sohn Ernst sich der Einberufung entzogen hatte, indem er nach Norwegen gegangen war. Auf Empfehlung von Hannah Höch hatte die Familie Schwitters 1929 eine Schiffsreise nach Spitzbergen unternommen und war danach beinahe jedes Jahr ferienhalber in Norwegen gewesen, zuletzt auf der kleinen, kaum bewohnten Insel Hjertöy vor der Westküste im Moldefjord, wo Schwitters 1934 einen Schafstall für sich und die Seinen gemietet hatte. Da lag es nahe, den immer drängenderen Nachfragen der Gestapo im Land der Fjorde zu entgehen. Am 2. Januar 1937 reiste Kurt Schwitters seinem Sohn hinterher und bezog zusammen mit ihm eine Wohnung in Lysaker bei Oslo. Ich baue hier ein neues Atelier als Zeichen, dass ein neues Leben für mich beginnt. Es muss beginnen, ich bin erst 50 Jahre, da kann man ja noch einmal anfangen.“ Dem Romantiker in Kurt Schwitters gefiel das Land, dem Künstler weniger: „Neue Kunst, ausser Architektur, gibt es hier nicht, aber das Land ist unbeschreiblich schön. Die Fjorde, unsere Insel, Oslo, Stockholm, die Wikingerschiffe ,das ist wohl das Wichtigste. Und avantgardistische Literatur, darf man getrost hinzufügen, war dort ebensowenig geschätzt, schon gar nicht, wenn der Autor Deutscher war. Eher war man geneigt, ihn für einen Spion als für einen Künstler zu halten. Schrullig war er allemal, wenn er sommers auf seiner Insel hauste oder sich in westnorwegischen Hotels an Touristen heranmachte, um Landschaftsbilder oder Porträts zu verkaufen und ihnen seine schwer verständlichen Texte vorzutragen. Seine internationalen Verbindungen litten und darunter wiederum er, obwohl er auch weiter – bildnerisch wie literarisch – seine Merzarbeit betrieb, allerdings praktisch unbeachtet von einer norwegischen Öffentlichkeit. Probleme mit seiner Aufenthaltsgenehmigung kamen hinzu.

Als schliesslich die deutschen Okkupationstruppen ihn am 9. April 1940 in Oslo einzuholen drohten, floh er mit seinem Sohn und dessen Frau zwei Monate lang nach Norden, bis es den Flüchtenden gelang, mit dem Eisbrecher „Fritjof Nansen“ ausser Landes nach Schottland zu kommen. Dann folgte die Internierung, zuletzt auf der Isle of Man, von wo Kurt Schwitters Ende 1941 nach London entlassen wurde. Die Lagerhaft war seine schlechteste Zeit nicht; man liess ihn seine eigene Kunst sowie, gegen Honorar, Porträts von Wachpersonal und Mitgefangenen machen. Zum Lebensunterhalt versuchte er, in London daran anzuknüpfen. Nachdem er von der Zerstörung seines „Merzbaus“ in Hannover durch Fliegerbomben, später vom Tod seiner Frau und seiner Mutter erfahren und einen ersten Schlaganfall erlitten hatte, übersiedelte er 1945 zusammen mit Edith „Wantee“ Thomas, der Lebensgefährtin seiner letzten, kranken Jahre,  nach Ambleside im englischen Lake District. Dort, im nahen Kendal, ist Kurt Schwitters am 8.Januar 1948 gestorben.

In seiner späten, der englischen Zeit fertigte der Künstler neben Porträts und Landschaften vor allem neue Collagen, Kleinplastiken sowie abstrakte Malerei und begann, nur Monate vor seinem Tod, einen weiteren Merzbau in einer Scheune. Als Autor fügte er seinen collagierten Texten und Lautdichtungen solche in englischer Sprache hinzu und plante per Korrespondenz mit Raoul Hausmann, den es nach Limoges verschlagen hatte, die Herausgabe einer Zeitschrift „PIN“, die beider gesamtes Spektrum der künstlerischen Aktivitäten umfassen sollte.

Alles in allem erscheint es daher sogar eher verwunderlich, dass der eingangs erwähnte Kritiker in den grossen Fusstapfen von Kurt Schwitters nur zwei Gegenwärtige wandeln sah. Aber das bezog sich auf Niedersachsen.




Bibliographische Notiz:
Das literarische Werk von Kurt Schwitters ist, jedenfalls was die Ersterscheinungen angeht, ganz ausserordentlich verstreut. Eine „Ausgewählte Bibliographie“ von Hans Bollinger (in der Publikation des kunsthistorischen Wiederentdeckers von Schwitters, Werner Schmalenbach, zählt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – fast 250 Einträge. Im Einzelnen auf die grösstenteils kaum erhältlichen, ephemeren Veröffentlichungen zu verweisen, würde Lesewilligen Steine statt Brot geben. Das gilt selbst für die diversen „Anna Bluma“-Dichtungen der Jahre 1919 bis 1922, den „Tran Nr. 30 – Auguste Bolte“ von 1923, die typographisch gestalteten Kinderbücher („Märchen vom Paradies“, „Die Scheuche“, „Hahnepeter“) der Jahre 1924/5 und erst recht für die von Schwitters zwischen 1922 und 1932 in unregelmässigen Abständen herausgegebenen „Merz“-Hefte. Am umfassendsten sind sämtliche Kategorien der Schwitters'schen Texte wiedergegeben in der mehrbändigen Lach'schen Ausgabe.

Werke:
Das literarische Werk. Band 1 – 5. Hrsg. von Friedhelm Lach. Köln 1973 - 1977.
Wir spielen bis uns der Tod abholt, Briefe aus fünf Jahrzehnten. Hrsg. von Ernst Nündel. Frankfurt/M. 1986.

Über Kurt Schwitters:
Käte Traumann Steinitz: Kurt Schwitters. Erinnerungen aus den Jahren 1918 – 30. Zürich 1963.
Werner Schmalenbach: Kurt Schwitters. Köln 1967.
Ernst Nündel: Kurt Schwitters. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1992.


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