Bernd Rauschenbach

 "1 Gefäß für Worte"

Arno Schmidt

Geboren am 18. Januar 1914 in Hamburg, 
gestorben am 3. Juni 1979 in Celle

Frühjahr 1970: Die deutsche Presse, von der Münchner ’Abendzeitung’ bis zur ’Zeit’, bringt die Meldung, das sagenumwobene, lang erwartete Hauptwerk Arno Schmidts sei nun endlich erschienen: Zettel’s Traum – ein Buchmonster von über 1300 atlasgroßen Seiten, ein Faksimile des dreispaltigen Typoskripts, in 2000 vom 

Autor signierten Exemplaren, zum Subskriptionspreis von 295 DM pro Stück. Ich näherte mich damals meinem 18. Geburtstag und war ein wenig beleidigt: In pennälerhafter Hybris wurmte es mich, daß ich, obwohl ich mich doch nun schon ein, zwei Jahre für zeitgenössische Literatur interessierte, noch nie etwas von Schmidt gehört oder gar gelesen hatte. Als dann auch noch in der Tür meiner Stamm-Buchhandlung die Fotokopie eines ’Spiegel’-Artikels über Zettel’s Traum hing, reichte es mir. Ich bat den Buchhändler, mir etwas von diesem Schmidt zu empfehlen. Der drückte mir ein schmales Fischer-Taschenbuch in die Hand: ”Lies das. Das ist verständlicher als Zettel’s Traum.”
Vergilbt und etwas zerfleddert liegt das Buch heute vor mir, Sommermeteor. 23 Kurzgeschichten. Nichts an ihm deutet darauf hin, daß seine Lektüre eine für mein Leben bestimmende war – aber ganz genau genommen war sie das auch noch nicht. Denn der Eindruck, den etwa die skurrilen Erzählungen des alten Vermessungsrats Stürenburg oder die Geschichten aus der Inselstraße beim ersten Lesen auf mich machten, war ein zwiespältiger. Ich las diese Texte durchaus gerne, ich mochte ihre Mischung aus hochgestochenem Witz, präzis gebannter Alltäglichkeit, 50er-Jahre-Kleinkariertheit, Kalauern und verschrobenen Ansichten: Was heißt schon New York? Großstadt ist Großstadt; ich war oft genug in Hannover. Aber das konnte doch nicht Alles sein. Ich vermißte das in den Berichten über Zettel’s Traum angekündigte literarische Schwergewicht, den avantgardistischen Sprachartisten und Konstrukteur komplizierter Prosastrukturen, den deutschen James Joyce. Der Buchhändler hatte recht gehabt: Das Buch war verständlich. Aber der Pennäler war wieder etwas beleidigt: So sehr verständlich hätte es nun auch nicht sein müssen! Ich legte den Sommermeteor weg und nahm mir vor, es bei Gelegenheit noch einmal mit Arno Schmidt zu versuchen, unternahm freilich nichts, diese Gelegenheit herbeizuführen. Erst ein Jahr später ergab sie sich von selbst – wie sich Schicksalhaftes eben zu ergeben pflegt.
Sommer 1971 – ich reise mit dem Rucksack durch Skandinavien. Kalter Regen und helle Nächte lassen meinen Vorrat an Reiselektüre rasch dahin schmelzen, und so betrachte ich nördlich des Polarkreises, in Bodø, interessiert den Taschenbuchständer, der in der endlich sich zeigenden Sonne vor einer Papierwarenhandlung steht. Eine Handvoll deutscher Titel ist dabei, und darunter: Arno Schmidt, Tina oder über die Unsterblichkeit. – In Narvik hatte ich bereits mehr als die Hälfte der 174 eng bedruckten Seiten gelesen, und im Zug irgendwo hinter Kiruna klappte ich das Buch zu und war mir sicher: Von diesem Autor wollte ich jede Zeile lesen, die er geschrieben hatte und die er noch schreiben würde.
Unsicher freilich war ich mir, was ich da eigentlich gelesen hatte. Das Buch enthielt eine bizarre Text-Zusammenstellung und hatte keinerlei Ähnlichkeit mit irgendeinem anderen mir bekannten. Es begann noch relativ moderat mit der Titelgeschichte, in der ein Autor besuchsweise durch eine Litfaßsäule in ein unterirdisches Elysium gelangt, in welchem Dichter aller Zeitalter darauf warten, daß sie in Vergessenheit geraten und sich endlich in Nichts auflösen dürfen. – Doch dann folgten zwei für den Rundfunk geschriebene Dialoge, in denen über Literatur gesprochen wurde, wie noch kein Lehrer zu mir über Literatur gesprochen hatte, voll Feuer und Begeisterung, mit klotzigen Urteilen und scharfen Beobachtungen, in einer suggestiven Intensität und Direktheit, die mir geradezu ins Gesicht schrien, hier sei Jemand, der es mit der Literatur, mit seiner Kunst ums Leben ernst meine.
Aber wurde hier wirklich ”über” Literatur geredet? Der erste Dialog hatte einen Roman des 18. Jahrhunderts zum Gegenstand, der laut Schmidt die profetische Beschreibung eines ’Super=Dritten=Reiches’ und das ideale SS=Handbuch sei. Natürlich kannte ich seinen Verfasser von Meyern genauso wenig wie den angeblichen Historiker Müller, von dem im zweiten Dialog behauptet wurde, er hätte eine Geschichte der Schweiz geschrieben, in der so gut wie jede Wirtshauskeilerei der Eidgenossen ihren epischen Platz gefunden hätte. Und natürlich konnte ich in Lappland nicht überprüfen, ob diese beiden Autoren (ebenso wie der Held des vierten Textes, einer Revue über den preußischen Obristen Massenbach, der für eine Allianz mit Napoleon gekämpft haben sollte) historische Figuren oder Erfindungen Schmidts waren. Ich konnte nicht entscheiden, ob ich (verkürzt gesagt) Primär- oder Sekundärliteratur gelesen hatte. Eine Unsicherheit, die Arno Schmidt, als ich ihm drei Jahre später davon erzählen konnte, ausgesprochen freute – und die, wie ich im Laufe meiner weiteren Lektüre bald merkte, eine der Stärken und Probleme der schmidtschen Funkdialoge ausmacht. – Aber diese Diskussion führte hier zu weit, haben wir uns doch jetzt Schmidts Lebenslauf zuzuwenden.

Arno Schmidt wird am 18.1.1914 in Hamburg geboren als zweites Kind des Polizeioberwachtmeisters Otto Schmidt und seiner Frau Clara. Zusammen mit seiner drei Jahre älteren Schwester Lucie wächst er in einer 2-Zimmer-Wohnung im Arbeiter-Vorort Hamm auf. Er ist ein extrem kurzsichtiges, kontaktscheues, aber phantasiebegabtes Kind, das sich früh – (denn er hat bereits im Vorschulalter Lesen gelernt) – in die Bücherwelten von Jules Verne und Karl May flüchtet.
1928 stirbt der Vater, und der Rest der Familie zieht ins Haus der Großmutter mütterlicherseits in die nieder-schlesische Kreisstadt Lauban. Im 20 km westlich gelegenen Görlitz besucht Schmidt die Oberrealschule, wo er im Frühjahr 1933 sein Abitur macht. An ein angesichts durchweg guter Noten sich empfehlendes Studium ist wohl aus finanziellen Gründen nicht zu denken, und Arbeit ist auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit zunächst nicht zu finden; erst ein Jahr später wird er im benachbarten Greiffenberg kaufmännischer Lehrling (danach Lagerbuchhalter) in einer Textilfabrik. Dort lernt er die 1916 geborene Sekretärin Alice Murawski kennen; sie heiraten 1937 und ziehen 1938 in eine kleine Werkswohnung nach Greiffenberg. Die wenigen erhaltenen Fotos dieser Wohnung zeigen vornehmlich gefüllte Bücherregale.
Nachdem er bereits als Oberschüler Gedichte geschrieben und ein Versepos entworfen hat, beginnt Schmidt, für seine Frau Elementargeistererzählungen im Ton der von ihm verehrten Romantiker Tieck, Hoffmann und Fouqué zu schreiben, literarisch wertlose, historisierende Fingerübungen, die nichts von den Zwängen der den Autor umgebenden NS-Realität ahnen lassen – was sich auch nicht ändert, als Schmidt 1940 eingezogen wird und bei der Artillerie Schreibstubendienst im Elsaß und in Norwegen ableisten muß. Die letzten Kriegswochen erst kommt Schmidt zur kämpfenden Truppe an die Westfront, wo er in englische Kriegsgefangenschaft gerät. Schon im Dezember 1945 wird er wieder entlassen, denn die Engländer haben eine Aufgabe für ihn: Er wird Dolmetscher in ihrer Hilfspolizeischule in der Lüneburger Heide.
In Cordingen (bei Walsrode) bewohnen Schmidt und seine Frau, die nur mit einem Rucksack voller Bücher aus Schlesien flüchten konnte, ein enges Zimmer im Mühlenhof; als die Polizeischule nach einem Jahr schließt, wird Schmidt, „freier Schriftsteller“ – ein Entschluß, der zunächst Hunger und Entbehrung bringt, erscheint doch sein erstes Buch erst im Herbst 1949: Leviathan versammelt drei Erzählungen, die nun nichts mehr mit der süßlichen, zu Schmidts Lebzeiten unveröffentlichten Vorkriegsproduktion zu tun haben, sondern aus der rabiaten Kiste stammen, wie Schmidt sagt. Die Titelgeschichte gibt die letzten Tagebuchaufzeichnungen eines deutschen Soldaten wieder, dessen Flucht vor der Roten Armee auf einem zerschossenen Viadukt in einem Eisenbahnzug endet, hoch über der Neiße bei Görlitz, wo es kein Vor und Zurück mehr gibt, nur den Sprung in den Tod. In dieser Situation entwirft Schmidt sein von Schopenhauer und der Gnosis beeinflußtes Bild einer von einem bösartigen Dämon geschaffenen und regierten bösartigen Welt, aus der sich der Mensch allenfalls retten kann durch Auflehnung gegen ihren Schöpfer und dessen Weltmechanismen : Fressen und Geilheit. Wuchern und Ersticken. – Die Literaturkritik nimmt dieses Debut meist wohlwollend, sogar mit Begeisterung auf; Hermann Hesse nennt Schmidt einen „wirklichen Dichter“, Alfred Andersch „ein Genie!“ und die Mainzer Akademie verleiht ihm ihren Literaturpreis. Doch der Verkauf des bei Rowohlt erschienenen Buches ist gering, zu düster sind Schmidts Geschichten, zu ungewohnt ist seine Sprache, die in ihrem Assoziations- und Bilderreichtum, ihrer Sprunghaftigkeit und ihrer Intensität anknüpft an den vom Nationalsozialismus verfemten Expressionismus.
Diese Diskrepanz zwischen wirtschaftlichem Mißerfolg und Anerkennung bei Kritik und Kollegen (die natürlich nie uneingeschränkt ist : seine Bücher provozieren immer wieder auch die wütendsten Verrisse) wird noch bis weit in die sechziger Jahre anhalten, so daß Arno Schmidt Brotarbeiten für Radio und Zeitungen schreiben und Romane aus dem Englischen übersetzen muß.
Ende 1950 lassen sich Schmidts als Flüchtlinge umsiedeln; der neue Wohnort Gau-Bickelheim südlich von Mainz bringt jedoch nicht die erhoffte Besserung der Wohnsituation, und so ziehen sie 1951 in das Dorf Kastel hoch über der Saar. – Noch in Norddeutschland und noch vor der Währungsreform spielt Schmidts 1951 erscheinender Kurzroman Brand’s Haide, in dem der ärmliche Versuch eines eben aus Gefangenschaft Entlassenen geschildert wird, sich in der Nachkriegsprovinz einzurichten – die ausführliche Fassung quasi von Günter Eichs Kahlschlag-Gedicht ‚Inventur’. – So, wie klar ist, daß Schmidts Ich-Erzähler in der sich eben bildenden, gar nicht so neuen Gesellschaft aus Altnazis, Neureichen und an Kultur desinteressierten Spießern nie heimisch werden wird, so ist auch spätestens mit diesem Buch klar, daß sein Autor in der deutschen Literatur ein Außenseiter ist und bleiben wird. Zwar will auch Schmidt (wie etwa Böll oder Koeppen) ein möglichst realistisches und schonungsloses Bild seiner Zeit geben, doch bezieht er dabei Bewußtseinsvorgänge, Erkenntnisprozesse, Erinnerungen, Träume und Gedankenspiele seiner Figuren mit ein und stellt so einer äußeren, objektiven Realität eine innere, subjektive an die Seite. Durch zahlreiche Zitate und Anspielungen verankert er außerdem seine Texte in dem weiten Kosmos der von ihm geschätzten Literatur, der von Homer über Parzival, Wieland, Tieck, Scott und Poe bis zu Stramm, Döblin und Joyce reicht. Seine hoch-artifizielle Sprache bricht er immer wieder durch den Einsatz von umgangssprachlichen Duden-Widrigkeiten, und mit exzessiver Zeichensetzung erobert er seiner Prosa die eigentlich schriftfremden Bereiche von Mimik, Tempo, Rhythmus und Tonhöhe.
Der so entstehende schmidtsche Stil ist ebenso leicht zu erkennen wie schwer nachzuahmen – genauer gesagt: nachgeahmt wirkt er sofort peinlich und falsch, und so hat Schmidt auch nie eine Schule begründet und zumindest keine offen erkennbaren Nachfolger gefunden. Von Schriftstellergruppierungen hält er sich fern, Einladungen der ’Gruppe 47‘ und des PEN lehnt er mehrfach ab.
1955 erscheint Schmidts Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas : ein Kurzurlaub am oldenburgischen Dümmer, zwei Paare, die sich rasch finden, Paddelboote, Sonnenbrand und Sex – doch unter der heiteren Oberfläche einer der schönsten Liebesgeschichten der deutschen Literatur brodelt die Erinnerung an den jüngsten Krieg: der ganze Text ist dicht durchzogen von einer Todes- und Gewaltmetaphorik, die selbst aufmerksamen Lesern lange entgeht. Was allerdings ganz offen liegt – Schmidts Haß aufs Militär, seine Ablehnung der Adenauer-Restauration, sein atheistischer Furor und seine Kühnheit im Sexuellen – bringt ihm eine Anzeige wegen Verbreitung von Pornographie und Gotteslästerung ein. Schmidts sind ob der drohenden hohen Geldstrafe sehr beunruhigt und ziehen aus dem konservativen Gerichtsbezirk Trier in das liberalere Darmstadt, wo denn auch nach einem positiven Gutachten der Akademie das Verfahren eingestellt wird.
1956 erscheint Das steinerne Herz, Schmidts sprachlich und inhaltlich bislang radikalstes Buch. Es thematisiert nicht nur als erster deutscher Roman die deutsche Teilung, sondern wägt sogar die Systeme von BRD und DDR vergleichend gegeneinander ab und stellt sie so auf eine Stufe – ein Skandal in einer Zeit, wo selbst SPD-Wähler die DDR nur ‘Zone‘ nennen. Hinzu kommt eine völlig ungewohnte, weitgehend phonetische Schreibung der Roman-Dialoge; Sätze wie Pumpsu woh ma den Ssementtroch voll, Wallda? lassen konservative Rezensenten zum Schutz der deutschen Literatur Gott anflehen oder verleiten sie zu Fragen wie „Dichtung oder hormonales Irresein?“, während Peter Rühmkorf zum Steinernen Herz dekretiert: „Hier hat ein Ereignis stattgefunden, das neue Maße herausfordert, hier ist das erste Buch, das die Generation rechtfertigt, der Schmidt angehört.“
Das unruhige Großstadtleben in Darmstadt macht Schmidt zunehmend zu schaffen, auch gesundheitlich. Sein hohes Arbeitspensum, geleistet mit großer Konzentration und unter Einsatz von Kaffee, Alkohol und Schlaftabletten, verlangt nach dörflicher Ruhe, zumal Schmidt längst die norddeutsche Heide als die ihm gemäße Landschaft erkannt hat. Doch erst Ende 1958 findet er ein passendes, vor allem bezahlbares Häuschen in Bargfeld, am Südrand der Südheide, deren Landschaft ein zentraler Bestandteil seiner Bücher wird. So auch im 1960 erscheinenden Roman Kaff auch Mare Crisium, der allerdings außer der Heide in einem utopischen Gedankenspiel des Protagonisten auch noch den Mond zum Schauplatz hat, wo nach einem Atomkrieg auf Erden ein kleiner Rest Menschheit überlebt. Die Sprache auf Erden hat Schmidt nach Ansicht seiner Kritiker schon vorher zerstört, treibt er doch in diesem Buch die phonetische Schreibweise weiter als je zuvor.
1964 zeichnet ihn der Berliner Senat mit dem Fontane-Preis aus; die Laudatio hält Günter Grass. Als Alice Schmidt sich nach der Feier bei Grass bedanken will, winkt dieser bescheiden ab: ”Wir haben doch alle bei Ihrem Mann gelernt.“
 Arno Schmidt, der schon immer ungern gereist ist, verläßt Bargfeld in den 60er Jahren kaum noch und empfängt nur wenige Besucher. Neben der Übersetzung von Werken Edgar Allan Poes arbeitet er an seinem opus maximum Zettel’s Traum, einem gigantischen Roman-Essay über Poe, in dem Schmidt versucht, seine seit mehreren Jahren intensiv betriebene Freud-Lektüre fruchtbar zu machen: Aus der „Traumdeutung“ und der „Psychopathologie des Alltagslebens“ entlehnte Analysemethoden wendet Schmidt auf Poes Wortschatz an, indem er aus phonetisch naheliegenden, meist sexuell unterfütterten Doppeldeutigkeiten auf Person und Charakter Poes schließt. – Das Erscheinen des Buches löst 1970 ein ungeheures Medien-Echo aus, das Schmidts Namen und den bis heute ebenso gern zitierten wie verballhornten Titel des Riesenbuchs schlagartig über den Kreis seiner bislang etwa vier- bis fünftausend festen Leser bekannt macht, was nicht ganz unproblematisch ist: Denn wer – neugierig geworden und ohne etwas von Schmidt zu kennen – Zettel’s Traum aufschlägt und den dreispaltigen Seitenaufbau sieht (der in der Struktur einfacher als das Layout einer ”Bild-Zeitung“ ist!), der wird in der Regel den Folianten ratlos zuschlagen und nicht ahnen, daß Zettel’s Traum ein Sonderfall im Werk Schmidts ist und die Werke davor und danach anders, leichter und vergnüglicher zu lesen sind.
1972 erleidet Schmidt einen Herzinfarkt, der ihn zwar daran hindert, den ihm von der Stadt Frankfurt am Main verliehenen Goethe-Preis 1973 persönlich entgegen zu nehmen, der aber keine Herabsetzung des Arbeitspensums bewirkt. – 1977 veröffentlicht er seinen letzten Roman Abend mit Goldrand, in dem eine Hippie-Kommune, deren Anführer über magische Kräfte gebieten, in die scheinbare Dorfidylle dreier alter Männer bricht. Schmidt gelingt hier etwas, das nicht nur in der deutschen Literatur einmalig sein dürfte: Die Verbindung eines pornographischen Lachkabinetts von rüder, oftmals abstoßender Derbheit mit der denkbar zartesten, delikatesten Liebesbeziehung zwischen einem Greis und einer jungen Frau. Ein in jeder Beziehung reiches, bis heute nicht ausgelotetes Buch, das sich wohl (gegen Zettel’s Traum) als das eigentliche Hauptwerk Schmidts durchsetzen wird.
Als Arno Schmidt am 3. Juni 1979 an den Folgen eines Gehirnschlags stirbt, steckt in seiner Schreibmaschine die Seite 100 des Fragment gebliebenen Romans Julia, oder die Gemälde. Der letzte Satz, den er getippt hat, lautet: Ist Fleiß für Menschen & Tiere eine einfache (Lebens)Notwendigkeit?

1981 gründeten Alice Schmidt und der Germanist Jan Philipp Reemtsma, der Schmidt seit 1977 finanziell unterstützt hatte, die Arno Schmidt Stiftung, die seit dem Tod der Witwe 1983 als Alleinerbin Schmidts Werk betreut. – Es ist heute in weit über einer Million Büchern verbreitet, die zahlreichen Übersetzungen in fremde Sprachen nicht mitgerechnet. Da kann also keine Rede mehr sein von einem ’Geheimtip’ oder einem Autor für eine kleine Fangemeinde – Arno Schmidt ist ein anerkannter Klassiker der Moderne geworden.
Natürlich haben Schmidts sexuelle Freizügigkeiten in unserer pornographisierten Gesellschaft ihre Provokation verloren, und die deutsche Wiedervereinigung hat viele (nicht alle) seiner politischen Kommentare obsolet gemacht. Doch wer über die Anfänge unserer Republik unterrichtet sein, wer Befindlichkeiten, Denk- und Verhaltensweisen ihrer Einwohner beobachten will, der kann aus Schmidts Büchern viele Details erfahren, die er bei Historikern nicht finden wird.
Inhalt und Handlung standen für Schmidt aber nie im Vordergrund seiner Prosa, sein Hauptinteresse galt stets Form und Sprache. Und so lernt denn der Leser, wenn er zu Büchern Arno Schmidts greift, heute vor allem Sprachkunstwerke hohen Ranges kennen: präzise Konstruktionen des Erzählgerüsts und sorgfältigster Feinbau, eine Wortwahl nach Vokalharmonien und Konsonantennarreteien, ebenso überraschende wie treffende Bilder und Metaphern, souveränes Mischen alter und neuer, hoher und niederer Sprachformen, konzentrierteste Dichte, Unterhaltung und Belehrung, derbe Kalauer und Naturlyrik, und ein immer wieder Staunen machender unvertraut vertrauter Umgang mit Wörtern: Vielleicht bin ich von Mutter Natur ausdrücklich als 1 Gefäß für Worte angelegt, in dem es schtändich probiert & rührt & komm=biniert?

Werke:
Die von der Arno Schmidt Stiftung herausgegebene ’Bargfelder Ausgabe der Werke Arno Schmidts’ ist beim Suhrkamp Verlag erhältlich; viele Texte sind auch als Taschenbücher im Fischer Verlag erschienen. – Hauptwerke: Leviathan, Hamburg 1949; Brand’s Haide, Hamburg 1951; Das steinerne Herz, Karlsruhe 1956; Die Gelehrtenrepublik, Karlsruhe 1957; KAFF auch MARE CRISIUM, Karlsruhe 1960; Zettel’s Traum, Stuttgart 1970; Abend mit Goldrand, Frankfurt/M 1975.

Über Arno Schmidt:
Arno Schmidt. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik 1977 (= Text + Kritik. Heft 20/20a).
Wolfgang Albrecht: Arno Schmidt. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998 (=Sammlung
Metzler Nr. 312)
Wolfgang Martynkewicz: Arno Schmidt. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1992 (= rowohlts monographien. Band 484).

Immer wieder neu und anregend ist die homepage www.Arno-Schmidt-Stiftung.de mit vielen Informationen und links.


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