Christoph Suin de Boutemard

 „Republicanismus – Cosmopolitismus – Pantheismus sind das Charakteristische der Partei, der Du ganz und gar angehörst“

 

Heinrich Albert Oppermann

Geboren am 21. Juli 1812 in Göttingen, 
gestorben am 16. Februar 1870 in Nienburg/Weser


„Er ist wirklich unbekannt, der Heinrich Albert Oppermann, mit seinem Mammutroman, der >Hundert Jahre< ; dem, meines Wissens, einzigen politischen Roman der Deutschen. Ich glaube, daß es sich hier um einen echten >Fund< handelt; die Anlage des riesigen, neunbändigen, Stückes ist schlechterdings großartig; die Gesinnung bester 1848er Jahrgang, eine >Eiserne Lerche< 1. Größenklasse“.

Mit diesen emphatischen Worten versuchte 1958 kein geringerer als der Schriftsteller Arno Schmidt seinem damaligen SDR-Hörfunkredakteur, Helmut Heißenbüttel, ein Werk des 1870 verstorbenen Autors schmackhaft zu machen. Hatte Schmidt doch kurz zuvor den im Todesjahr Oppermanns herausgegebenen Roman ‚ausgegraben’ und darüber einen Radioessay mit dem Titel „Hundert Jahre. Einem Mann zum Gedenken“ verfasst. Arno Schmidt, mit seiner untrüglichen Nase für zu Unrecht vergessene Literaten, hatte somit die Person Oppermanns und sein literarischen Hauptwerk wiederentdeckt. Ganz vergessen war Oppermann allerdings in der Stadt Nienburg/Weser nicht, wo er knapp 20 Jahre lang als niedergelassener Rechtsanwalt seinem Brotberuf nachging. Dem früheren Stadtdirektor Heinz Intemann ist es zu verdanken, dass eine Straße in der Weserstadt Oppermanns Namen trägt und am 125. Todestag diesem "Manne zum Gedenken" in Nienburg eine literarische und wissenschaftliche Gesellschaft gegründet wurde.


PR für die Göttinger Sieben

Wer war dieser Schriftsteller, Jurist und Politiker Heinrich Albert Oppermann, dessen Romanwerke bis heute nicht zum schulischen Lesekanon gehören, dessen publizistische Leistungen als politischer Analyst und treffsicherer Rezensent (bisher) noch keine Aufnahme in den Pantheon der „großen deutschen Verrisse“ (Hans Mayer) gefunden haben und dessen politische Arbeit als Jurist und Abgeordneter für die Liberalen allenfalls einigen (Rechts-) Historikern bekannt sein dürfte ?

Geboren 1812 in Göttingen als Sohn eines im Universitätsviertel lebenden Buchbindermeisters, studierte Oppermann von 1831 bis 1838 Philosophie und Rechtswissenschaften an der damals Königlich-Grossbritannisch-Hannoverschen Universität Göttingen. Zu seinen Lehrern zählte der Historiker und Staatsrechtler Friedrich Christoph Dahlmann. Letzterer gehörte mit den Brüdern Grimm und vier weiteren Göttinger Professoren zu jenen sieben Hochschullehrern, die 1837 gegen die einseitige Aufhebung der leidlich liberalen Verfassung durch den neuen hannoverschen König Ernst August protestierten. Vermutlich wäre dieser auf dem Dienstweg eingereichte Protest gegen eine als Rechtsbruch des Königs interpretierbare Tat in den Akten irgendeiner Staatskanzlei ungelesen verstaubt, hätte nicht Oppermann, ausgehend von dem Manuskript der Protestation, das ihm vermutlich sein Lehrer Dahlmann gab, in allerkürzester Zeit für eine Kopier- und Distributionsaktion der Protestation an mehrere in- und ausländischen Zeitungen gesorgt, die diesen Text dann auch publizierten. Eine Entlassung der Sieben und ein fünfjähriges Berufsverbot für Oppermann mit seiner anschließenden „Verbannung“ in die nordwestdeutsche Provinz, nach Hoya und Nienburg, war die zeitnahe Folge dieser Protestation. Heute ehrt ein Denkmal vor dem Niedersächsischen Landtag die Sieben mit ihrem „Pressesprecher“.

Mit dem Schaffen von Öffentlichkeit war es Oppermann gelungen, dass ein eminent wichtiger politischer Vorgang – und damit etwas, was alle Bürger anging, eben eine Verfassungsaufhebung – zu einer öffentlichen Angelegenheit wurde. Das Prinzip, politische Vorgänge transparent und öffentlich zu machen, staatlicher Macht eine publizistische Gegenmacht entgegenzustellen, zog sich denn auch wie ein roter Faden durch das publizistische, politische und literarische Werk Oppermanns. Bis zu seinem Tode 1870 veröffentlichte er 23 Bücher zumeist zu historischen, aktuellen politischen und verfassungsrechtlichen Fragen. Er war als Korrespondent, Essayist und Rezensent für etwa ein Dutzend Zeitschriften und Zeitungen tätig, darunter so bedeutende Blätter wie die Augsburger Allgemeinen Zeitung, die Rheinische Zeitung oder die in New York erscheinende Deutschen Schnellpost. (Es gab damals zahlreiche von deutschen politischen Emigranten edierte Publikationsorgane in den USA, und Oppermann schrieb für mehrere von ihnen.)



Ein forscher Jungdeutscher

Oppermanns literarisches Schaffen begann während der Göttinger Studienzeit. Sein Erstlingsroman, die unter dem bezeichnenden Pseudonym Hermann Forsch edierten Studentenbilder, ist literaturhistorisch in der informellen Gruppe des Jungen Deutschland zu verorten, zu der Autoren wie Heinrich Heine, Karl Gutzkow oder Theodor Mundt gehörten, die jenseits des festgefügten kanonisierten Programms eine Literatur einforderten, die „im Strom des Lebens“ (Karl Gutzkow) stand, also die rasch wechselnden sozioökonomischen Zustände als Vorlage zu literarischen Stoffen nahm.
So ist denn auch Oppermanns Erstlingswerk ein Roman, der mit engagierten politischen Implikationen und Evokationen ausgestattet ist. Hauptthema des Romans ist das Sequel der Pariser Julirevolution von 1830, die Göttinger Revolution vom Januar 1831. Mit Witz und Charme decouvrierte Oppermann „die unsterblichen 168 Stunden der Göttinger Revolution“ (Studentenbilder) als eine von deutschen Philistern und Freizeitinsurgenten veranstaltete „Revolution“, wobei Oppermann die revolutionäre Entschlossenheit und Ernsthaftigkeit einer Gruppe von Anhängern des Philosophen Karl Christian Friedrich Krause aufmerksam registrierte. Die literarische Verarbeitung erschien ihm dabei als ein geeignetes Sujet, seinen Lesern das selbstinszenierte Heldentum, die Kommunikationsatmosphäre zwischen Studenten, Dozenten, Bürgern und Obrigkeit nebst dem tragikomisch anmutenden Ende dieses Aufstandes zu vermitteln:

„Man schlug vor, Osterode zu befreien, Andere wollten auf geradem Wege nach Hannover ziehen und unterwegs Alles revolutioniren; wieder Andere wollten zuerst nach Hildesheim. Nirgends Einheit und Uebereinstimmung, nirgends Unterredung und Gehorsam, und so blieb es beim Zank[...].So ernst Viele auch die Sache betrachteten, so hielt sie doch die Mehrzahl nur für einen Carnevalsspaß. Man exercirte und patrouillirte, machte Paradezüge durch die Stadt, und leerte die Rauchkammern der Philister von überflüssigen Würsten, Alles zu ihrer Befreiung. Schon klagten aber die Frauen über Versäumniß der Männer, der Gesellen und Lehrburschen, über das Verschwinden des schönen Vorraths von Wurst und Schinken; schon war für die Philister selbst der Wachedienst ermüdend und beschwerlich[...]
Ich besuchte am Abend mehrere Wirthshäuser, wo Bürger versammelt waren, um ihren Geist kennen zu lernen, und , wo es Noth thäte, Muth einzusprechen, ich fand aber lauter Helden, freilich beim Branntewein; besonders viele enthusiasmirte Gäste fand ich in der „goldnen Kugel“; hier war ein Friseur der Wortführende[...] „Glaubt mir“, sagte dieser und schlug auf den Tisch, daß mehrere Gläser herabfielen, „glaubt mir, auf den ersten Angriff, den man auf unsere Stadt wagt, werden von Dorf zu Dorf die Sturmglocken angezogen werden,[...]. zur Befreiung Göttingens herbeizueilen. Bis sie kommen wollen wir uns als Helden bewähren. Denkt an Paris, denkt an Brüssel, theure Mitbürger“ [...]
Der kleine Hüboller stand auf einem Tisch und gesticulirte heftig: „keine Irrung von der Sache der Bürger und der Sache der Freiheit!“ schrie er [...] Rauschenplat, der eignen Interesses halber die Sache zum Aeußersten zu treiben suchte, haranguirte uns in einer donnernden Rede. Wer Tod schmählicher Uebergabe
[der Stadt an die hannoverschen Truppen] vorziehe, solle zu ihm treten; nur Wenige thaten es, und so lösten sich denn auch die übrigen Verbindungen auf.“

Der Rezensent Karl Gutzkow lobte an Oppermanns Roman: Die „Göttinger Unruhen, die Frankfurter Attentate [gemeint ist der Frankfurter Wachensturm vom April 1833, ein misslungener Versuch, mit einem Fanal eine Revolution auszulösen und an dem auch Rauschenplat beteiligt war], alles tritt vor die Augen des Lesers und ergötzt ihn durch eine frische, lebhafte Auffassung“. Nur eines mißfiel Gutzkow: Oppermanns zusätzlicher und verunglückter Versuch, auch noch "Liebesidyllen" mit hinein zu bringen: „Sollen denn jene Weibsbilder, die sich den Männern selbst an den Hals werfen, niemals aus unseren Romanen verbannt werden“, fragte er süffisant.

Im Laufe seines späteren schriftstellerischen Wirkens schätzte Oppermann seine Fähigkeiten richtiger ein. So bemerkte er im Vorwort seines opus magnum, dem Roman Hundert Jahre: „Ich traute mir nicht die Kraft zu, blos seelische Zustände zum Gegenstand der Dichtung zu machen. Wohl aber glaubte ich, in der Geschichte der Familien, die ich zwei oder drei Generationen hindurch schildern wollte, den Charakter des Zeitalters im allgemeinen zeichnen zu können“. Denn, so sein Credo im gleichen Vorwort: „Wozu ein Mensch Neigung hat, dazu hat er auch Fähigkeit und Verstand“.


Roman des Nebeneinander

Getreu diesem Motto wandte sich Heinrich Albert Oppermann einem literarischen Programm zu, das in die Romanhandlung nicht nur politische und soziale Implikationen netzartig einwob, mithin dem Roman eine gesellschaftspolitische Botschaft zusprach. Oppermann entlieh zudem den von Karl Gutzkow in seinem Roman Die Ritter vom Geiste entwickelte Form eines „Romans des Nebeneinander“. Für sein Großprojekt, die Hundert Jahre, sammelte er mehrere Jahre lang Quellen und Materialien, interpretierte sie aus einem aufklärerischen Ansatz heraus und ordnete sie zu zeittypischen Genrebildern, die in parallelen Plots das Leben von drei Generationen im Zeitraum 1770 – 1870 nachzeichneten. Diese bewegte Zeitspanne, die durch politische, technischen und soziale Revolutionen und Zäsuren gekennzeichnet war, bot – um es mit einer Lieblingsmetapher Victor Hugos zu sagen – einen „Ozean an Quellen“. Sie war bestens geeignet, die Abhängigkeiten der Lebensentwürfe und Biographien von Oppermanns Romanprotagonisten vor den Zeitläuften herauszuarbeiten aber auch um aufzuzeigen, dass eigene aktive politische Handlungen gewünschte Veränderungen bewirken können.

Oppermanns Absicht war es u.a., mit dieser Romantechnik ein Ideen-Gewebe der europäischen Spätaufklärung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu geben. Hierzu schickte er seine Romanfiguren von der nordwestdeutschen Provinz, von Hoya/Weser, in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Sie nahmen an maßgeblichen Positionen in der Französischen Revolution teil, erlebten die Napoleonische Ära, genossen die Attitudes of Lady Hamilton und verhandelten auf dem Wiener Kongreß, erfuhren die französische Julirevolution von 1830 und waren aktiv 1837 an der Protestation der „Göttinger Sieben“ sowie an der 1848er Revolution beteiligt – oft spielte Autobiographisches von Oppermann mit hinein, so z.B. bei den zwei letztgenannten Ereignissen. Die Namen der im Roman auftretenden und handelnden Personen lasen sich denn auch wie das politische, philosophische, literarische und „Jet-Set“-Who is Who der Jahre zwischen 1770 und 1870. Am Ende des Romans trafen sich die Nachfahren der Hauptfiguren des Romans in Kalifornien, um dort eine Musterkolonie zu gründen. Oppermann konstruierte hier eine Sozial- und Staatsutopie, die auf Ideen des deutschen Philosophen Karl Christian Friedrich Krause gründete.


Wer war Karl Christian Friedrich Krause?

„Freunde in der Heimat ! Gesinnungsgenossen ! Kampfgenossen für die Freiheit und Einheit Deutschlands!
Ein deutscher Landsmann bietet euch in einem fernen Erdtheile eine Heimstätte, wie sie schöner gelegen [...] vielleicht auf dem ganzen Erdboden nicht wieder gefunden wird.“


So beginnt am Ende von Heinrich Albert Oppermanns Roman Hundert Jahre ein Aufruf, mit dem 1868 in liberalen Kreisen in Deutschland für die Emigration in das „Paradies im Westen“ (Hundert Jahre) geworben werden sollte. Und in dieser als Genossenschaft gegründeten Heimstätte namens „Hellungen“, gelegen am kalifornischen Lake Clear, sollte es dann folgerichtig „hell und klar, offen und durchsichtig [...] nicht nur nach Zirkel und Winkelmaß, sondern auch nach Vernunft und Recht“ zugehen. Oppermanns moralphilosophische Ideen, die sowohl seinen Erstlingsroman, die Studentenbilder, als auch sein Spätwerk, die Hundert Jahre, wie ein roter Faden durchziehen, werden am Ende des letztgenannten Romans noch einmal in einem großen Finale zusammengefaßt:

„Nach den Grundsätzen der neu reconstituirten Union:
Freier Boden, / Freie Arbeit, / Freie Rede, / Freie Menschen !
ist der Bau begründet und auf dieser Grundlage soll er fortgeführt werden. Wer daran im rein menschlichen Geiste helfen will, wem jene Worte aus der Seele gesprochen sind, der soll mir willkommen sein [...].Wir wollen gemeinsam versuchen, wa s[...].bei völliger Freiheit von jeder Bevormundung, die den Genossen gewährt wird, bei gesellschaftlichen Einrichtungen, die nach strengem Rechte die Wohlfahrt aller bezwecken, aus einer Gemeinde werden kann, die auf ihr Banner den Wahlspruch < Reine Humanität > geschrieben hat.
Die Ortsgenossenschaft Hellungen wird auf dem allgemeinmenschlichen Boden der Sittlichkeit errichtet; Sittlichkeit ist nicht ohne Menschenliebe, Gerechtigkeit und Fleiß, auch soll sie, so Gott will, nicht ohne Religion sein. Allein die Religion ist als solche nicht die Sache der Gemeindeverwaltung, wie sie in Amerika nicht Sache des Staates ist. Sie bleibt eine freie Angelegenheit des Einzelnen[...]In Hellungen werden keine priesterlichen Sklavenzüchter des Geistes geduldet[...]jedermann soll dort in der That nach seiner Facon selig werden können, oder, was besser ist, er soll schon hier
im Himmel zu leben das Seine thun können[...]Wir kennen keinen Standesunterschied, keine durch Geburt oder Laune des Glücks bedingte Bevorzugung, keine gesellschaftliche Stellung, die auf Raub und Knechtung beruht, keine Ausnahmen von Gesetz und Recht, keine privilegirten Herren und Müßiggänger[...]Wir füttern keine Mumien, weder dynastische noch klerikale. Altersschwache, Kranke, Gebrechliche, Witwen und Waisen fallen der Pflege der Ortsgenossenschaft zu. Das Gemeinwesen übt im weitesten Maße die wirksamste Solidarität aus[...]Die Erziehung ist die heiligste Angelegenheit; wir gewähren die Mittel der Gründung von Erziehungs- und Lehranstalten für alle Altersstufen nach den Grundsätzen von Krause und F. Fröbel [...].
Möge Deutschland, das an Kräften jeder Art so überreich ist, uns eine tüchtige Zahl wackerer Männer und Frauen senden; wir werden sie als Glieder der großen Familie der Menschheit willkommen heißen“.

Strukturiert und organisiert werden sollte diese in einem literarischen Simulator vorgestellte Sozial- und Staatsutopie vor allem nach den Grundsätzen Krauses  "wie sie in dessen „Urbilde der Menschheit“ dargelegt sind“ (Hundert Jahre). Der Einfluß dieses Denkers auf Oppermann ging auf dessen Göttinger Studienzeit zurück. Der in Deutschland kaum rezipierte Philosoph Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832) habilitierte sich nach dem Studium der Mathematik, Philosophie und Theologie insgesamt dreimal: 1802 in Jena, 1814 in Berlin und 1823 in Göttingen – jeweils ohne eine Professor zu erlangen. Gründe, die Krauses berufliches Fortkommen und die Rezeption seiner Werke behinderten, waren neben seinem eigenwilligen, z.B. alle Fremdwörter vermeidenden „Reindeutsch“ seine politischen Ideale, die vorsahen, mittels der freimaurerischen Bewegung und ihrer Ideen einen universalen Menschheitsbund zu realisieren. In Göttingen bildete Krause als Privatdozent einen Schülerkreis u.a. um die Philosophen Heinrich Ahrens (1808-1874) und Karl Hermann Freiherr von Leonhardi (1809-1875) . In diesem Kreis lernte Oppermann wahrscheinlich schon als Primaner, spätestens aber ab 1829 Krauses Philosophie und wohl auch den Philosophen selbst kennen. Krause verließ – unter anderen mit seinen Schülern Ahrens und Leonhardi, die sich beide aktiv an den Göttinger Unruhen beteiligt hatten – 1831 die Stadt und starb ein Jahr später in München.

Sein philosophisches System, das einen Schlüssel zum Verständnis von Heinrich Albert Oppermanns Gesamtwerk gibt, bot eine Lösung für ein prinzipielles Grundanliegen und Ziel aller Philosophie an, das da lautet: wie lassen sich ungeachtet der Pluralität von Prinzipien, Substanzen oder Stoffen, die die Welt generieren und unterhalten, letzte Wahrheiten und Begründungsnormen finden? Krause bediente sich hierzu der altbekannten philosophischen Ansätze des Pantheismus, den er zu einem Panentheismus modifizierte, einer All-in-Gott-Lehre, in der jetzt ein persönlicher Gott in allen Dingen der Welt existent sein sollte. Dieser sollte aber als Vernunftwesen nicht an allen Dingen dieser Welt partizipieren. Die Pointe des Krauseschen Panentheismussystems besteht nun darin, dass das nur partielle Aufgehen Gottes in den Dingen der Welt einen Freiraum zulässt, der z.B. die Unvollkommenheit menschlichen Handelns erklärt. Dort aber, wo Gott mit der Welt gänzlich identisch ist, soll es prinzipiell auch möglich sein, dass der Mensch an der göttlichen Vernunft teilhat.

Prominentester Vertreter des Panentheismussystems, der ein Freiheitsprinzip aus der Natur ableitete und dieses auf die Wissenschaft und Politik übertrug, war der in Jena lehrende politische Naturphilosoph Lorenz Oken (1779-1851). Während dieser aber übergreifende wissenschaftliche Organe und Strukturen als Träger der aus dem Panentheismus abgeleiteten politischen Verflechtungen vorsah, wies Oppermann in seinen Studentenbildern die gleiche Funktion dem Individuum zu:

“Der Kampf, den Liberalismus und Servilismus mit einander kämpfen, ist nicht ein bloßer Kampf um politische Freiheiten, nein, die höchsten religiösen Ideen sind darin verwickelt. Der ausgebildete Liberalismus unserer Tage erfaßt die völlige Selbstständigkeit und Freiheit des Menschen – das Individuum fühlt sich ganz unabhängig von Gott, sein Gott ist die Menschheit oder die Welt, seine Unsterblichkeit das Bleiben des Guten in der Menschheit. Der Republicanismus – Cosmopolitismus – Pantheismus sind das Charakteristische der Partei, der Du ganz und gar angehörst. Das Prinzip der anderen Partei ist das Gefühl unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott. Der Mysticismus fühlt sich im schwelgenden Gottesgefühl befriedigt [...] Das Königthum von Gottes=Gnaden – die Legitimität, die heilige Allianz sind auf diesem Hauptprinzipe des Mysticismus gestützt [...] Der Liberalismus wird nicht eher siegen, sein Sieg wenigstens kein heilbringender sein, bis er sich von seinen Einseitigkeiten befreit; Du wirst Dich nicht eher glücklich und befriedigt fühlen, bis Du Dich auf einem höheren Standpunkt erhoben hast“. „Und welcher wäre dies“? fragte Ruppert. „Du mußt vor Allem Gott rein und ganz erkennen, dann wirst Du Pantheist sein, aber Gott auch als Grund der Welt und über ihr wissen, dann wirst Du Dir Deiner Selbstständigkeit und Freiheit, aber auch Deiner Abhängigkeit von Gott inne sein. Dann kannst Du Republikaner sein[...]“

Krauses Panentheismussystem lieferte für Heinrich Albert Oppermann das ideengeschichtliche Rüstzeug. Zusammengefasst lautet es: Wer unterschiedliche Religionsauffassungen als Manifestation eines singulären göttlichen Prinzips ansieht, muß religiöse Toleranz üben. Wer dem Menschen eine Teilhabe an der göttlichen Vernunft zugesteht, wird daraus einen Erkenntnis- und Fortschrittsoptimismus, einen Glauben an die Verbesserung des Individuums und der Menschheit u.a. durch Erziehung und Bildung und die Forderung nach politischen Freiheiten folgern müssen.


Das Unmögliche denken, damit das Mögliche erreicht wird

„Schade eigentlich. - : Nach 3000 Seiten scharfgesehener Realität; nach Erneuerung von Eintausend halbvergessenen guten Namen; nach all dem Aufwand an Wirklichkeitssinn also – mündet schließlich die Fabel von allen Enden her in ein – entschuldigen Sie den Ausdruck, aber es ist ja nicht anders – in ein Traumreich ?!“

Man wird Arno Schmidts provokanter Kritik am Ausgang von Oppermanns Jahr-Hundert-Roman zustimmen müssen, mutet doch heutigen Lesern Oppermanns weltanschaulicher Ansatz des Panentheismus und des damit verbundenen Systemdenkens widersprüchlich und überholt an. (Die Tendenz Krauses, gelingendes Leben überwiegend auf ethische Handlungsanweisungen zu reduzieren und ökonomisch Fragen ganz auszublenden, sei hier nur als Beispiel genannt.)

Trotz aller Kritik bleibt aber festzuhalten, dass der praktische und ethische Nutzen von (religiöser) Toleranz, von politischer Freiheit, von Gewährung gleicher Bildungschancen oder einer institutionell gesicherten Rechtsstaatlichkeit eines Gemeinwesen außer Frage steht. Bei weiterer Sichtung von Oppermanns Gesamtwerk wird deutlich, dass gerade die Hundert Jahre für ihren Autoren ein hochpolitischer Entwurf für eine Vision von (und in) einer „Neuen Welt“ waren. Utopien waren für ihn keine Heilslehren, sondern wohl durchdachte Konzepte mit liberaler, rechtsstaatlicher und moralphilosophischer Prägung, die – mit Max Weber – ihre Kraft aus dem Gedanken gewinnen, dass, wer nicht zum Unmöglichen greift, auch das Mögliche verfehlt. Sozial- und staatsutopische Entwürfe aber, durchgespielt in einem literarischen Simulator, können beim Leser Phantasie und Kreativität erzeugen und fördern – um das Unmögliche zu denken, damit das Mögliche erreicht werde. Dieser Ansatz macht Heinrich Albert Oppermanns literarisches und publizistisches Gesamtwerk bis heute lesenswert.

1852 wurde er Obergerichtsanwalt und Vizepräsident der Anwaltskammer in Nienburg. Ein Jahr später fand er Aufnahme in der dortigen
Freimaurerloge "Georg zum Silbernen Einhorn", gründete 1859 die Nienburger Schillerstiftung und begann 1863 mit der Herausgabe des "Nienburger Wochenblattes". In den Jahren von 1867 bis 1870 war er Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. Am 16. Februar 1870 starb er in Nienburg. Im selben Jahr erschien sein großer Roman "Hundert Jahre".

Werke:
Heinrich Albert Oppermann: Hundert Jahre. 1770-1870. Zeit- und Lebensbilder aus drei Generationen. Leipzig: Brockhaus 1870.
Seitenidentischer, verkleinerter Nachdruck: Frankfurt/Main: Zweitausendeins 1982ff.
Heinrich Albert Oppermann Lesebuch. Hannover: Postskriptum 1996

Über Heinrich Albert Oppermann:
Arno Schmidt: Hundert Jahre (Einem Manne zum Gedenken). In: Bargfelder Ausgabe II/2. Zürich: Haffmans 1990, S. 142-193.
Gerhard Friesen: Heinrich Albert Oppermann. In: The German Panoramic Novel of the 19 th Century. Bern, Frankfurt/Main: Lang. 1972, S. 163 – 200.
Heiko Postma: Heinrich Albert Oppermann. Portrait eines Niedersachsen. In: Heinrich Albert Oppermann. Hundert Jahre. 1770-1870. Zeit und Lebensbilder aus drei Generationen.
Leipzig: Brockhaus 1870. Nachdruck: Frankfurt/Main: Zweitausendeins 1982ff, Band 9, Nachwort S. 1-116.
Christoph Suin de Boutemard: „Über die [Göttinger] Bibliothek brauchen wir nichts hinzuzufügen; ihre Vortrefflichkeit ist allgemein anerkannt“. mb. Mitteilungsblatt der Bibliotheken in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Hannover: CPS. Heft 123/124, Juni 2002, S. 60-75.

Kontakt zur Heinrich-Albert-Oppermann-Gesellschaft:
Christoph Suin de Boutemard

Neue Straße 6
D-31582 Nienburg/Weser
Email: suindeboutemard@gmx.de
Homepage: http://www.oppermann-gesellschaft.de


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