Ich
habe diese Sammlung halbautobiografischer Reiseerzählungen nur gelesen,
aber mein Vater fuhr in seinem VW bis zum nördlichen Wendekreis, das
Buch im Kopf und Herzen.
Längst besaß ich damals meinen eigenen Hausmann, interessierten mich
andere Aspekte an ihm. Als ich meine bibliothekarische Diplom-Arbeit über
den Eros in seinem Werk schrieb – ein Unterfangen, dass 1971 sicher
nicht typisch für einen Studenten war – habe ich alle Romane,
Gedichte, Spiele, jede Predigt, jeden Essay gelesen – und verlor die
Freude an diesen Büchern dennoch nicht.
"Schreib ihm", empfahl meine Freundin und nachmalige Frau,
"immerhin ist er ein Dichter, der noch lebt." So tat ich, und
er schrieb zurück, mit einem
aufrichtigen Gruß, auch an Ihre kluge Freundin. Es kamen wunderbare
Briefe, detailliert, ab und zu mit ein bisschen liebevoller Ironie, wenn
er mir geduldig (wie sicher schon vielen Studenten vor mir) einige
Selbstverständlichkeiten aus dem Schreibprozess erläuterte, mit
Warmherzigkeit anerkennend, wenn ich es getroffen hatte.
Sie haben ganz richtig erkannt,
was für eine wichtige Rolle das "Du" in meinen Versuchen
spielt. Daraus ergibt sich, daß alles, was ich schreibe, diesen
bekenntnishaften Charakter hat. Schreiben ist für mich zugleich ein
Bekennen. Damit das Bekennen der Wahrheit möglichst nahe kommt, habe
ich die Form der Dichtung gewählt. In der Dichtung spielt das
Ungesagte, eine beherrschende Rolle. Und eben im Ungesagten wohnt die
Wahrheit. (Brief vom 28. 4.1971)
Das galt für den frühen Hausmann ganz gewiß. In dem Maße freilich,
wie sich später neben dem Ungesagten auch das Ausgesprochene
behauptete, zog der Dichter Kritik auf sich, bis es ihm im Spätwerk
wieder gelang, das Ausgesprochene weitgehend in den Formen des Essays,
der Predigt zu halten, der Dichtung aber das Unausgesprochene
vorzubehalten. So entstanden noch in den letzten Lebensjahren einige große
Erzählungen und zahlreiche formvollendete Gedichte. Aber außer dem
Bekennen gab es noch einen zweiten großen Beweggrund, der sich im
Gesamtwerk Hausmanns immer wieder und immer schmerzhafter ausdrückt.
Schon in einer Tagebuchnotiz vom 30. Januar 1942 (postum veröffentlicht)
versucht er sich das klarzumachen:
Warum schafft der Künstler Werke
in der Welt der Sinne? Warum teilt er die Werke anderen mit? Warum immer
wieder dies Mitteilen, wenn er auch tausendmal erfahren hat, daß auch
der gutwilligste Andere das Eigentliche nicht versteht? […] Es ist
wohl eine tiefe Sehnsuht in jede Menschenbrust gelegt, nicht allein zu
bleiben. Hält die Vergeblichkeit jeder Liebesumarmung uns ab, die
Geliebte wieder und wieder sehnsüchtig, einungssüchtig zu umarmen?
Nein. Das Werk des Künstlers wird ja in der größten Einsamkeit und
tiefsten Verlassenheit erschaffen. "Ach könnte ich doch mit diesem
Werk die Einsamkeit durchbrechen, einmal wirklich mit meiner Seele an
eine andere rühren!"
Die Vorsicht des Künstlers hat es Hausmann am Ende wohl verwehrt, eine
Autobiografie zu schreiben, wiewohl er in der Bundesrepublik einer der
beachtetsten Personen des öffentlichen Lebens war, zu Reden
aufgefordert, mit Preisen geehrt, ja sogar – was nun wirklich nur den
vielschichtigsten Menschen widerfährt – umstritten. Aber es gibt
Nachworte, Einschübe, literarische Impromptus, Stellungnahmen, die das
subjektive Ich des Autors nicht verschweigen. Ein kleines Selbstbildnis
von 1928 ist noch ganz im verspielten Stil des jungen Hausmann
geschrieben, der – kombiniert mit einer Gabe zu impressionistischer
Welt- und Wirklichkeitsdarstellung – von so großer Wirkung war. Ein
Stil, der auch für Tiefes und Trauriges und Bewegendes taugte und den
Dingen nicht ihre Tragik nahm, wohl aber vor Sentimentalität bewahrte.
Er trat am 10. September 1898 in
Kassel als Erstgeburt ans Licht. Da er blond, blauäugig und langschädelig
war, schmückten seine Eltern ihn mit dem nördlichen und zu ungewöhnlichen
Taten verpflichtenden Vornamen Manfred. [-] Ungewöhnlich war indessen fürs
erste nur seine Lümmelhaftigkeit. Als seine Eltern nach Göttingen übersiedelten,
gab es dort zu seinem aufrichtigen Bedauern ein Gymnasium.
Der Lümmel schaffte das Abitur ohne weiteres und veröffentlichte während
seiner Schülerzeit sogar schon Gedichte und Prosaskizzen im "Göttinger
Tageblatt". Das prägende Erlebnis der damaligen Jahre aber – und
hier trifft sich seine Erlebnis-Biografie mit der meines Vaters – war
die Jugendbewegung: das Wandern, Sitzen und Singen am Lagerfeuer, das
Vorlesen, die Pflege antibürgerlicher Autoren und Ideen. Jäh freilich
wurde Hausmanns Jugend durch den Ersten Weltkrieg beendet. 1916
Notreifeprüfung. 1917 Einzug ins Feld. Hunger,
Gas, Trommelfeuer, Regen, Vegetieren im Stollen, Schlaf, Schlaf, Schlaf,
unglaubliche Roheit, einzigartige Kameradschaft, Waldlager, Tod,
Wahnsinn. Er begriff vom Wesen und Sinn des Krieges so gut wie nichts.
Ein lebensgieriger Junge von achtzehn Jahren.
Das schrieb er mit 32 Jahren in dem kleinen Selbstbildnis. Und hatte vom
Krieg immerhin so viel begriffen, dass er in der damals entstandenen
Ballade "Die Leuchtkugel" glaubhaft von den tiefen Skrupeln
des Soldaten im Feld erzählen konnte: Was
tust du, dacht' ich, was zerstörst du da! / Er ist ein Mensch wie du,
er ist dir nah. Ein Rückfall hinter diese tapfer-humanistische
Position unterläuft ihm im Nationalsozialismus, als er 1940 – im
Aprilheft des "Deutschen Kulturrats" – den Artikel
"Sport und Krieg" veröffentlicht. Darin heisst es u.a.: So
gesehen kann der Krieg sich geradezu als die Vollendung dessen
darstellen, was das tiefste Geheimnis des Sports ausmacht […] Ein
grundsätzlicher Unterschied zwischen Sport und Krieg – beide als
menschliche Haltung betrachtet – besteht jedenfalls nicht. Der Krieg
ist lediglich eine Steigerung des sportlichen, des kämpferischen Lebens
ins Äußerste.
Man kann sich bemühen zu verstehen, was Hausmann im Tiefsten meinte.
Ein schaler Geschmack bleibt bei diesem Vergleich gleichwohl, wie er
auch bei den Bemühungen Ernst Jüngers geblieben ist, in seinen frühen
Schriften den "Kampf als inneres Erlebnis" zu verklären. Und
einen fatalen Nachgeschmack verursacht dann auch die 1966 mit großem
Beifall aufgenommene Festrede Hausmanns zum 60jährigen Jubiläum des
Deutschen Fußballbundes. "Spiegel des Lebens" nennt er seine
Gedanken über das Fußballspiel. Spiegelten sich ein Vierteljahrhundert
zuvor Sport und Krieg, so hier Sport und Menschlichkeit, Ritterlichkeit.
Aber dann kommt er auf den Feldverweis zu sprechen und rutscht dabei in
eine seltsam abwegige Metaphorik. Da gebe es keine Begnadigung,
heißt es, tot ist tot, und
alle Beweismittel, die sich für oder gegen die Todesstrafe beibringen
ließen, ließen sich auch gegen diese Regel anführen. Wer
versucht, das Spiel zu töten, soll selbst "getötet", d.h.
aus dem Lebens- und Ordnungsbereich des Spiels entfernt werden. –
Indessen war das Heranziehen solcher Bilder wirklich ein Ausrutscher und
nicht typisch für den Christen Hausmann. Doch blieb er manchem Leser
unverständlich, der noch immer auf den ersten Menschen ohne Widerspruch
in sich wartet; der Strick war fest, den man dem Autor daraus gedreht
hat.
Der junge Mann zog sich im Ersten Weltkrieg eine Lungen- und
Rippenfellentzündung zu, wurde verwundet. Ein Schuß durch den Fußwurzelknochen,
vor allem aber die Verätzung der Bronchien durch Gelbkreuzgas sollten
ihm lebenslang zu schaffen machen. Dennoch war ihm sein guter Mut nicht
vergangen. Er begann an den nicht
gerade prallen Brüsten der Alma Mater Georgia Augusta Gottingensis zu
saugen, nicht ohne das Maul ob der Bitternis der philosophischen Milch
schief zu ziehen. Dies getan, sprang er, so gut sein Fuß es ihm
erlaubte, kopfüber in den Sprudel der Münchener Bohème […] Eines
Faschings erwarb er aus lauter Übermut das philosophische Doktorhütchen.
In seiner Dissertation untersuchte er "Kunstdichtung und
Volksdichtung im deutschen Soldatenlied 1914 – 1918". Von Göttingen
ging es nach München, dann nach Heidelberg. Im Dezember 1922 heiratete
er die Mathematikstudentin Irmgard Schmidt, die er noch in Göttingen
kennengelernt hatte. 1924 kamen die Zwillinge Tjark und Wolf auf die
Welt, 1930 Bettina und 1936 Martin. Vor allem der Jüngste hatte später
unter dem größten Nachkriegserfolg seines Vaters leiden – den in
Worpswede angesiedelten autobiografischen Anekdoten um
"Martin" (1949), "Isabel" (1953),
"Andreas" (1957) – nahmen doch Hunderttausende begeisterter
Leser die dort niedergelegten dichterischen Äußerungen allzu
unreflektiert für die reine Wahrheit. Und welcher gesetzte Pfarrer läßt
sich schon gern über die Jahre hin mit "Ach, Sie sind also der
kleine Martin!" begrüßen?
Familienvater war Hausmann ja nun, aber mit dem Sesshaftwerden sollte es
noch eine Weile dauern. Er war Privatdozentenaspirant, Dramaturg,
arbeitete im Kontor der väterlichen Mikroskop-Fabrik in Göttingen,
dann in einer Bremer Übersee-Expedition, schließlich beim Weserkurier.
Er legte die Arbeit bei der
Zeitung nieder und landstreicherte im Überschwang der neuen Freiheit so
lange durch Deutschland auf und nieder, bis er das Buch "Lampioon"
fertig hatte. Lieh sich Geld für ein Haus auf dem Weyerberg in
Worpswede und kaufte dazu eine Segeljolle. Ab 1930 erschienen alle seine
Hauptwerke bei S. Fischer. Dies
erachtete und erachtet der Autor für gleichbedeutend mit einem ruhigen
Lebensabend. Sagt er und setzt ein bißchen frivol hinzu: So
lebt er so hin. Er lebt sehr gern. Er weiß nicht viel, aber er lebt.
Das ist genug. Es sollte nicht genug sein, und die Erkenntnis kam
wie ein Überfall. Aber zunächst einmal wurde Manfred Hausmann sehr
schnell recht berühmt. Über die wahre Entstehung der beiden
Landstreicherromane "Lampioon küßt Mädchen und kleine
Birken" (1928) und "Salut gen Himmel" (1930) schrieb er
mir in einem seiner Briefe:
Übrigens sind die beiden Bände
nicht nacheinander entstanden. Es war so: Ich habe niedergeschrieben,
was sich mir gerade anbot. Als erstes, soweit ich mich erinnere, die
Geschichte "Salut gen Himmel" und dann diese und jene. Ohne
jeden Zusammenhang. Der Gedanke, ein Buch daraus zu machen, ist
mir erst gekommen, als schon allerlei Geschichten vorlagen. Ich habe
dann als einziges bewußtes Kompositionselement den Ablauf der
Jahreszeiten eingeführt. Da ich das ganze Buch aber für den Termin,
der mit dem Schünemann-Verlag vertraglich vereinbart war, nicht fertig
bekam, habe ich in meiner Not die Geschichten, die jetzt im "Lampioon"-Band
stehen, zusammengerafft und abgeliefert. Aus dem Rest und den später
fertiggestellten Geschichten wurde dann "Salut gen Himmel".
Eigentlich sollte das Ganze also ein einziges Buch werden. Die Verständnislosigkeit
des Schünemann-Verlags, die auch der Grund für meinen Bruch mit ihm
war, hat mich gezwungen, das Ganze auseinanderzureißen. Bei der
lockeren Komposition war das allerdings kein großes Unglück. (17.
3. 1971)
Eine Geschichte, die gleich Dreierlei lehrt: den Leser, dass Bücher oft
genug nach gänzlich außerliterarischen Kriterien konstruiert werden
und trotzdem gut sein können; den Verleger, dass er seinem Autor gefälligst
Zeit lassen soll (denn diese beiden Bücher wurden dann zu Hausmanns
ersten Bestsellern); schließlich den Rezensenten, keine voreiligen Schlüsse
zu ziehen, wenn er nicht ganz genau weiß, wie die Entstehungsgeschichte
eines Buches wirklich war. (Ich glaube, dass auch ich mich damals während
meiner Arbeit zunächst kräftig verrannt habe – weshalb sonst hätte
mir der Autor die Genesis der Bücher so detailliert
auseinandergesetzt?)
Manfred Hausmann hatte Glück mit allem, was er anpackte. "Kleine
Liebe zu Amerika" (1931) war noch einmal in der alten
Kompositionstechnik locker miteinander verknüpfter Feuilletons und
Geschichten geschrieben und wurde ein großer Erfolg. In "Abel mit
der Mundharmonika" (1932) zeigt er sich nun auch in der Lage, einen
durchstrukturierten Roman schreiben zu können, mit kunstvollem
Handlungs- und Spannungsaufbau, geschickt vorausweisender Motivverknüpfung
und einer Dialogführung, welche zugleich die Handlung vorantreibt und
die Personen charakterisiert. Jeder der vier Jugendlichen wird durch
seine Art zu sprechen nicht nur genauestens porträtiert, es werden auch
ihre Hoffnungen und Ängste deutlich. Hausmann ist jetzt auf der Höhe
seiner bewundernswerten Fähigkeit, durch Andeuten und Aussparen starke
Bilder und eindrückliche Stimmungen zu schaffen.
Die nächsten Jahre zeigen ihn in buntem Wechsel als Dramatiker ("Lilofee",
1936), Lyriker ("Jahre des Lebens", 1938; "Alte
Musik", 1941) und Essayisten ("Einer muß wachen", 1942;
"Vorspiel", 1947). Wie aber zeigten sie ihn als Bürger des
dritten deutschen Reiches? Für Arn Strohmeyer ("Der Mitläufer",
1999) liegt der Fall klar: "Manfred Hausmann, der sich nach dem
Krieg selbst zur moralischen Autorität erhoben hat, war nicht
couragiert genug, sein eigenes Mitläufertum nach 1945 öffentlich zu
bekennen." Indessen steckt schon in diesem kurzen Resümmee seiner
länglichen Streitschrift zweierlei Mißverständnis: Weder kann man
sich selber zur Autorität erheben – allenfalls wird man erhoben –
noch hat Hausmann sein Mitläufertum je geleugnet – es sei denn,
Strohmeyer besitzt genaue Vorstellungen davon, wie solche Bekenntnisse
gefälligst auszusehen haben: in einem Fernsehinterview etwa oder einer
Denkschrift? Oder mögen am Ende doch persönliche Gespräche und Geständnisse
über die Jahre hin der richtige Weg sein?
Von der schwarz-rot-goldenen Fahne, die Hausmann 1935 ostentativ statt
des Hakenkreuzwimpels an seinem Hause hochgezogen hatte, über die
Treue, die er seinem jüdischen Verleger hielt bis zu den Ohrfeigen, die
er einem uniformierten NS-Angehörigen auf offener Straße versetzte,
lassen sich zudem Beispiele aufzählen und mehren, die einen Hausmann
zeigen, der sich nicht verbiegen ließ. Der sogar tapferer war, als man
es, selber keinem Unrechtsregime ausgesetzt, von anderen verlangen darf.
Der Schriftsteller fand sich publizistischen Hetzparolen ausgesetzt wie
jener des umtriebigen Kurt
Ziesel, der 1935 über "Lampioon" schrieb: "Dieser Roman
gehört wohl mit zum schmutzigsten und gemeinsten, was […] an
erotisch-pornographischer Literatur erschienen ist und von der gesamten
Judenpresse einem armen deutschen Volk als große deutsche Dichtung
aufgeschwätzt wurde." Auch wurde Hausmann später wegen
Wehrkraftzersetzung angezeigt, kam vor ein Kriegsgericht und wurde
verurteilt. (Dass die Strafe milde ausfiel, hatte er einzig seinem
Richter zu verdanken: Graf Sponeck, der am 22. Juli 1944 erschossen
wurde, weil er entgegen Hitlers Anweisung die ihm untergebenen Soldaten
durch den Befehl zum Rückzug gerettet hatte.)
Mehr denn je wandte sich Hausmann in jenen Jahren der Geborgenheit zu,
die ihm Heimat und Natur zu geben vermochten. Essays wie "Geliebtes
Bremen" (1939) und "Geheimnis einer Landschaft –
Worpswede" (1940) legen von ersterem Zeugnis ab, die 1990 von Tjark
Hausmann aus dem Nachlass herausgegebenen "Worpsweder Kalenderblätter"
von letzterem. Diese zwischen 1934 und 1941 entstandenen Aufzeichnungen
bemühen sich, scheinbar alltägliche Phänomene der Natur – das
Sich-Verändern von Farbnuancen über den Tag hinweg beispielsweise oder
der Wandel der Jahreszeiten von Tag zu Tag – mit Geduld,
Kenntnisreichtum und einer Präzision zu beschreiben, für die es nur
wenige Vergleiche in der Weltliteratur gibt (Vladimir Nabokov, Francis
Ponge, Ernst Jünger). Da das Buch, sieht man von einigen unbekannten
Martin-Andreas-Isabel-Geschichten ab, so gut wie keine Handlung bietet,
blieb es natürlich im Schatten stofflich attraktiverer Werke des
Autors. – Aber auch die Natur konnte für Hausmann letztlich keine
Rettung mehr bedeuten, ebenso wenig wie für Lampioon und die
Beunruhigten und Gequälten seiner frühen Erzählungen. Schon 1932
bekannte er:
Wenn ich sage, daß ich an nichts
glaube, so bringe ich das nicht prahlerisch und selbstsicher vor,
sondern eher verzweifelt und sehr leise. Ich bin nicht imstande, an
irgend etwas zu glauben. […] Vielleicht glaube ich an meinen
Unglauben, obgleich nicht einmal das sicher ist. Wenn ich einen
Bleistift in der Hand habe und ein Blatt Papier vor mir, dann merke ich,
daß ich doch nicht so recht an diesen meinen Unglauben glaube. Ich
glaube an nichts, aber nicht an das Nichts.
Dann aber geschah "Der Überfall", wie Hausmann das Phänomen
in der gleichnamigen Dialognovelle von 1952 nannte, seine Konfrontation
mit dem, was man gern "die letzten Dinge" nennt. Was da über
ihn hereinbrach, schien nur noch im Paradox artikulierbar. Wenn
es so ist, läßt er den Ich-Erzähler angesichts des von Gott Überfallenen
sagen, kann Ihnen niemand zur
Seite stehen, Christian. Und wenn Ihnen jemand zur Seite stehen könnte,
wäre es nicht so. Auch im Gedicht verwendet Hausmann diese
rhetorische Figur:
Nicht
einer kann von den Erschaffnen allen,
nicht einer, Gottes je versichert sein.
Nur wenn sie immer wieder aus ihm fallen,
dann fallen sie in ihn hinein.
Wo
kein Sinn mehr mißt,
waltet erst der Sinn.
Wo kein Weg mehr ist,
ist des Wegs Beginn.
1921 hatte Hausmann in Göttingen einen Gottesdienst besucht, bei dem
statt des Gemeindepfarrers der Schweizer Theologe Karl Barth gepredigt
hatte. Es kam, daß ich die Kirche
nicht wie sonst als ein ethisch Erbauter und theologisch Beruhigter,
sondern als ein Aufgewühlter, als ein um und um Gekehrter verließ.
1933 stieß er dann auf Barths Schrift "Theologische Existenz
heute", und sie sollte die endgültige Wende im Denken des Dichters
einleiten.
Durch Karl Barth kam ich zu
Kierkegaard, zu Dostojewski, zur Bibel und noch einmal und immer wieder
zur Bibel. Sie hat nicht ihresgleichen auf Erden, weder als Dichtung –
dem größten Teil der Menschheit wird diese atemraubende Dichtung
freilich vorenthalten -, weder als Dichtung noch als Kunde vom Wesen des
Menschen, noch als Offenbarmachung des dreieinigen Gottes. Und dabei bin
ich geblieben, denn hier ist gut sein.
1950 hat sich Manfred Hausmann, wie schon so oft in den Jahrzehnten
davor, die Frage gestellt, wer er im tiefsten Inneren wirklich sei. Der
Tonfall der autobiografischen Notiz ist längst nicht mehr kess wie
1928. Er muß nichts mehr überspielen. Die Antwort wird zum Bekenntnis:
Ich glaube, daß von mir, wenn ich
einmal alles abstreife, was ich ererbt, gelernt, nachempfunden oder mir
sonstwie angeeignet habe, alles, was ich nicht mir, sondern den Menschen
meiner Umgebung, der Umgebung selbst und dem sogenannten Zeitgeist
verdanke, ich glaube, daß dann von mir nichts übrigbleibt als ein
hilfloses Wesen, das einsam, schuldbewußt und gnadebedürftig vor den
richtenden Augen des Ewigen steht, der es erschaffen hat. [-] Der es
erschaffen hat. Das ist wichtig. Wie jedem anderen Menschen, so hat er
auch mir seinen Odem eingehaucht. Wenn ich wüßte, wer ich zutiefst und
zuwahrst bin, wüßte ich auch, wer Gott ist. Oder andersherum gesagt:
Da ich nie imstande bin, Gottes Wesenheit zu fassen, kann ich auch nie
wissen, wer ich bin. Bis zum Ende der Tage. Dann freilich wird alles
anders.
Neben den Dichter tritt immer mehr der christliche Autor Hausmann. Er
schreibt Spiele mit religiöser Aussage ("Der dunkle Reigen",
1951; "Hafenbar", 1954; "Der Fischbecker
Wandteppich", 1955; "Aufruhr in der Marktkirche", 1957;
"Die Zauberin von Buxtehude", 1959). Er schreibt Essays
("Die Entscheidung", 1955; "Tröstliche Zeichen",
1959; "Widerschein der Ewigkeit", 1966; "Hinter den
Dingen", 1967; "Kreise um eine Mitte", 1968). Von 1968
bis 1981 ist Hausmann ordinierter Ältestenprediger der
evangelisch-reformierten Gemeinde in Rönnebeck-Farge. In dieser Zeit
erscheinen seine Predigten ("Wort vom Wort", 1968;
"Gottes Ja", 1969; "Das abgründige Geheimnis",
1972; "Nüchternheit", 1975).
Wenn er dichterisch hervortritt, dann vor allem mit Lyrik ("Irrsal
der Liebe", 1960) und beeindruckenden Nachdichtungen aus dem Hebräischen,
Griechischen, Japanischen, Chinesischen. Bemerkenswert, dass ihm in
diesen Jahren und bei vorgerücktem Alter eine Synthese von Geist und
Sinnlichkeit gelingt, wie sie in der Lyrik jener Jahre so gut wie gar
nicht vorkommt ("Der golddurchwirkte Schleier", 1969;
"Altmodische Liebesgedichte", 1975). Fast scheint es, als ob
sich der religiöse Existentialist hier ein Refugium geschaffen habe, um
seine ganz unverwechselbare und einzigartige Begabung nicht zu
verlieren. Mit den Erzählungen ("Was dir nicht angehört",
1956) und Romanen jener Zeit ("Liebende leben von der
Vergebung", 1953; "Kleiner Stern im dunklen Strom", 1963)
hatte er weniger Glück. Sie klangen schon bei ihrem ersten Erscheinen
merkwürdig überholt. Einmal nur – in der Erzählung "Heute
noch" von 1962 – erreicht er die grausige Wucht und Eindrücklichkeit
von einst.
Mit dem neuen Hausmann konnte der alte Hausverlag S. Fischer lange Jahre
nicht mehr viel anfangen. Obwohl er noch immer einen großen Leserkreis
besaß, gab es wenige Nachauflagen. Zum 70. Geburtstag 1968 erschienen
immerhin Erzählungen ("Unvernunft zu Dritt") und ein Jahr später
die "Gedichte um Aphrodite". Erst drei Jahre vor seinem Tod
war eine umfassende Ausgabe konzipiert, deren erste Folge 1983
erscheinen konnte. Aber ein anderer, ein religiös orientierter Verlag
sprang in den letzten 20 Lebensjahren in die Bresche, brachte Neues
heraus und sammelte Altes. Werner Braselmann vom Neukirchener Verlag
wurde damals zum ersten Ansprechpartner Hausmanns.
Das anregende, aufregende und
fruchtbare Hin und Her zwischen Verleger und Autor, zwischen Autor und
Verleger, das ich seit den Tagen des alten Herrn Fischer, Gottfried
Bermann Fischers und Peter Suhrkamps nicht mehr gekannt und auch nicht
mehr für möglich gehalten hatte, beglückte und beglückt mich
ungemein.
Zu einer anderen unverzichtbaren Einnahmequelle wurden die
Lichtbildervorträge. Noch in den letzten Lebensjahren vermochte der
kreuz und quer durchs Land reisende Autor große Säle mit vielen
hundert Besuchern zu füllen, faszinierten seine Bildmeditationen
("Der Mensch vor Gottes Angesicht. Rembrandt-Bilder", 1976)
und Reisebeschreibungen ("Welt aus Licht und Eis", 1979).
Einmal, so erzählte er mir vor einem solchen Abend, habe er sein
Manuskript im Zug verloren und den ganzen Vortrag frei gehalten –
Hauptsache, dass ihm die Bilder nicht abhanden gekommen waren! Noch
einmal war Manfred Hausmann übrigens umgezogen:
Als ich mich im Jahre 1950
entschloß, dem Künstlerdorf Worpswede den Rücken zu kehren und im
Blumenthaler Ortsteil Rönnebeck für meine Familie und mich auf dem
Steilufer der Unterweser ein Haus zu bauen, da fragten die Freunde –
soweit sie die Gegend noch nicht kannten – warum ich denn gerade diese
Stätte gewählt hätte. […] In Blumenthal spüre ich den Atem der See
und die Grenzenlosigkeit der Welt. Aber auch zugleich den Duft der
Wiesen und Wälder in der freien Landschaft. Ich spüre die Lust der
weiten Horizonte und zugleich die Wohltat einer heimatlichen
Geborgenheit. Was will ich mehr?!
Am 10. September 1983 vermerkte ein imponierender, immer noch kraftvoll
wirkender Greis bei der Feierstunde im Festsaal des Bremer Rathauses anläßlich
seines 85. Geburtstages dankbar: Ich
bin alt, bin es noch über das biblische Alter hinaus. Ab da hatte
er noch drei Jahre Leben, die bis zuletzt mit der Arbeit eines
Schriftstellers angefüllt waren.
Werke:
Gesammelte
Werke in Einzelausgaben [Band 1 – 20]. Frankfurt am Main: S. Fischer
1983 – 1985.
Manfred Hausmann neu entdeckt.
Hrsg. von Ulf Fiedler. Bremen 1998.
Worpsweder Kalenderblätter. Tage, Stunden, Augenblicke. Hrsg.
von Tjark Hausmann. Worpswede: Worpsweder Verlag 1990.
Über Manfred Hausmann:
Carl Peter Fröhling: Sprache und Stil in den Romanen Manfred
Hausmanns. Diss. Bonn 1965.
Manfred Hausmann. Festschrift zu seinem 70. Geburtstag. Hrsg. von
Karlheinz Schauder. Frankfurt am Main 1968.
Klaus Seehafer: Der Eros im Werk Manfred Hausmanns. Dipl.-Arbeit.
Stuttgart 1971.
Karlheinz Schauder: Manfred Hausmann. Weg u. Werk. 2., erw. Aufl.
Neukirchen-Vluyn 1979.
Arn Strohmeyer: Der Mitläufer. Manfred Hausmann und der
Nationalsozialismus. Bremen 1999.
Hans Sarkowicz / Alf Mentzer: Literatur in Nazi-Deutschland. Ein
biografisches Lexikon. Hamburg, Wien: Europa Verlag 2000. (Darin:
Manfred Hausmann.)
Paula von Sydow: "Ich wollte immer das Geld für die Allgemeinheit
verwenden". Oldenburg: Isensee Verlag 2000. (Darin: "Ich habe
ihn schon auf der Fahrt von Bremen kennengelernt." Edith Ruß und
Manfred Hausmann.)
Biobibliographie im Internet:
www.litlinks.it/h/hausmann_m.htm
Zur
Auswahl
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